Desorganisierte Bindung: Merkmale und Auswirkungen auf die Beziehung

Tipps und Übungen, wie du einen desorganisierten Bindungsstil erkennst und heilst

Die unsicher-desorganisierte Bindung: Merkmale

Die Art und Weise, wie wir Nähe und Vertrauen erleben, prägt maßgeblich unser Verhalten in Partnerschaften, Freundschaften und familiären Beziehungen. Auf Basis dieser Beobachtung entwickelte der Psychoanalytiker John Bowlby in den 1950er Jahren die Bindungstheorie, sie wurde später von Bartholomew und Horowitz ergänzt. Noch heute arbeiten wir in der Paartherapie mit den vier Bindungstypen

  • Menschen mit einem sicheren Bindungsstil fühlen sich in Beziehungen wohl und schaffen eine stabile Basis für Vertrauen und emotionale Nähe.
     
  • Menschen mit einem ängstlichen Bindungstyp leiden unter großer Verlustangst. Sie haben meist ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung.
     
  • Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil fühlen sich in Beziehungen schnell unwohl, besonders wenn sie von Konflikten geprägt sind, sie sind nämlich sehr konfliktscheu.

Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil sehnen sich nach Verbundenheit, haben aber gleichzeitig große Bindungsangst – was das Ganze für alle Beteiligten ziemlich verwirrend machen kann. Sie verhalten sich häufig sehr widersprüchlich: Im ersten Moment rufen sie laut »Komm her«, im nächsten Moment »Geh weg«. 

Wie die anderen Bindungsstile auch, entwickelt sich der desorganisierte Bindungstyp meist in der frühen Kindheit und hat viel mit dem Verhalten der Bezugspersonen zu tun. In dem meisten Fällen haben die Betroffenen eine traumatische Kindheit hinter sich, in der sie keinen organisierten Stil entwickeln konnten.

Sie konnten also keine klaren Strategien entwickeln, mit emotionalem Stress oder Unsicherheit umzugehen. Sie haben einfach nicht gelernt, wie man zuverlässig Nähe herstellt oder sich selbst beruhigt. Deshalb sind sie oft zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst davor hin- und hergerissen – das zeigt sich dann auch als Erwachsene in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen.

 

Die desorganisierte Bindung in der Partnerschaft

Im Alltag reagieren ​​Menschen mit einem desorganisierten Bindungstyp manchmal sehr emotional auf Situationen, wirken dann aber plötzlich distanziert oder verschlossen. Gerade in der Kennenlernphase ist es nicht ungewöhnlich, dass sie sich stark für die neue Bekanntschaft interessieren und viel Nähe suchen. Es gibt dann intensive Momente des Austauschs, in denen die Person sehr präsent und emotional offen ist. Und dann folgt der plötzliche Rückzug.

Ähnlich wie die Vermeider können auch die Desorganisierten am Anfang sehr charmant, locker und positiv aufregend sein.
Birgit Fehst

Es kann leider vorkommen, dass Desorganisierte die Beziehung unbewusst sabotieren, weil sie das Gefühl haben, dass die Dinge »zu gut« laufen – Angst und Selbstzweifel nehmen Überhand. Sie schaffen absichtlich Distanz, etwa indem sie nicht mehr auf Nachrichten antworten oder übermäßig kritisch werden. Denn obwohl sich Desorganisierte nach einer festen Beziehung sehnen, haben sie oft Angst vor Verbindlichkeit. Die Unsicherheit, ob sie sich wirklich auf jemanden einlassen sollen, ist ihr ständiger Begleiter. Dieses Hin und Her ist für ihr Gegenüber oft schwer nachvollziehbar und kann zu Unsicherheit und Missverständnissen führen. 

Auch in einer Beziehung neigen Menschen mit desorganisiertem Bindungsstil dazu, diese immer wieder zu hinterfragen. Oft zögern sie große Entscheidungen wie das Zusammenziehen und Ähnliches immer wieder hinaus. Stattdessen suchen sie ständig nach Anzeichen, dass sie vielleicht doch verletzt oder verlassen werden, und testen Partnerin oder Partner, indem sie absichtlich provokative Fragen stellen oder Loyalitätsbeweise einfordern. Im Alltag kann schon ein kleiner Konflikt oder ein Missverständnis als unheimlich bedrohlich wahrgenommen werden. Desorganisierte reagieren dann plötzlich überfordert und emotional, was für das Umfeld unerwartet sein kann. 

Ja, klingt alles ganz schön anstrengend, oder? Ist es auch! Trotzdem sind diese Menschen nicht »unfähig«, stabile und liebevolle Beziehungen zu führen. Es geht eher darum, dass sie tiefe Unsicherheiten und Ängste mit sich herumtragen, die sich in ihrem Verhalten widerspiegeln. Wenn sie sich dieser Muster bewusst werden, können sie daran arbeiten und nach und nach Wege finden, ihre Emotionen besser zu regulieren und letztlich echte Beziehungen aufzubauen.

Eine desorganisierte Bindung verbessern

Hast du dich in der Beschreibung des desorganisierten Bindungsstils wiedergefunden? Dann möchte ich dir hier ganz deutlich sagen: Positive Veränderung ist möglich! Der erste Schritt auf diesem Weg ist, dich selbst besser zu verstehen und deine eigenen Bindungsmuster zu erkennen. Dieses Bewusstsein für deine inneren Konflikte und Ängste öffnet das Tor zur Veränderung und kann schließlich zum Licht am Ende des Tunnels führen.

 

1. Therapie

Die beste Möglichkeit, dein Muster zu verändern, ist eine Therapie. Besonders bindungsorientierte Therapieansätze oder Traumatherapien können dir helfen, alte Verletzungen zu heilen und neue, gesunde Verhaltensweisen zu entwickeln. Eine Therapie unterstützt dich dabei, deine Emotionen besser zu regulieren, mit alten Wunden umzugehen und neue Strategien im Umgang mit Beziehungen zu erlernen. Besonders wichtig ist hier die Arbeit an der Selbstregulation – also an der Fähigkeit, dich in stressigen oder emotional belastenden Momenten zu beruhigen, ohne in deine altbekannten Muster zu verfallen.
 

2. Achtsamkeit und Meditation 

Neben der professionellen Unterstützung gibt es auch einige Schritte, die du im Alltag selbst unternehmen kannst. Vor allem Achtsamkeit wird in deinem Heilungsprozess eine große Rolle spielen. Damit lernst du, dir deiner eigenen Gefühle und Reaktionen bewusster zu werden, und kannst frühzeitig gegensteuern. Durch Achtsamkeitspraxis oder Meditation kannst du nach und nach lernen, auch in stressigen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren.
 

3. Selbstliebe

Wahrscheinlich kämpfst du mit tief verwurzelten Unsicherheiten und Selbstzweifeln, hast oft das Gefühl, nicht genug zu sein oder keine stabile Bindung zu verdienen. Stopp! Lass diese Gedanken hinter dir und schlage einen neuen Weg ein – den Weg der Selbstliebe. Wer sich selbst liebt, kann erkennen, dass er oder sie es verdient, respektvolle und liebevolle Beziehungen zu führen, und dass diese Unsicherheiten auf alte Erfahrungen zurückzuführen sind – nicht auf den eigenen Wert.

Selbstliebe ist letztlich eine Haltung, die man aktiv entwickeln kann und pflegen muss.
Birgit Fehst

4. Gesunde Beziehungen 

Ein weiterer Schritt zur Veränderung besteht darin, bewusst sichere und unterstützende Beziehungen aufzubauen. Wenn du deine Vergangenheit betrachtest, wirst du vielleicht feststellen, dass du oft instabile oder sogar toxische Beziehungen hattest, weil diese dir vertraut erschienen. Ab jetzt ist es wichtig, dich auf Menschen zu konzentrieren, die emotional verlässlich sind und dir das Gefühl von Sicherheit geben. Hab den Mut, dich darauf einzulassen! Solche Beziehungen können dir dabei helfen, deine negativen Überzeugungen nach und nach zu verändern.

 

Menschen mit desorganisiertem Bindungsstil unterstützen

Auch für Partner:innen oder Freund:innen von Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil gibt es Möglichkeiten, unterstützend zu wirken. Wichtig dabei sind: 

Statt dich von widersprüchlichem Verhalten verunsichern zu lassen, versuche ruhig zu bleiben und der betroffenen Person zu zeigen, dass du bereit bist, an der Beziehung zu arbeiten. Je mehr Trost und Verlässlichkeit sie in der Beziehung erfährt, desto eher kann sie lernen, Vertrauen zu fassen und Ängste abzubauen.

 

Fazit: Den desorganisierten Bindungsstil sicherer machen

Insgesamt erfordert gerade der Weg zur Veränderung Zeit und Geduld – sowohl von der betroffenen Person als auch von den Menschen in ihrem Umfeld. Auch du möchtest geliebt werden und das, soweit es geht, annehmen können. Du kannst lernen, mehr Vertrauen in dich und andere zu entwickeln – aber das ist harte Arbeit! Wichtige Bausteine sind: 

  • eine begleitende Therapie
  • Meditation und Achtsamkeit
  • Selbstliebe
  • gesunde Beziehungen

Du wirst sehen: mit der richtigen Unterstützung und einem bewussten Umgang mit deinen eigenen Emotionen wirst du aus deinen alten destruktiven Mustern ausbrechen und stabile, liebevolle Beziehungen aufbauen.
 

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