Epigenetik: Wie du ein vererbtes Trauma erkennen und lösen kannst

Deine Vorfahren und Vorfahrinnen haben dir viele wunderbare Eigenschaften und Talente vererbt. Vielleicht hast du das Lächeln deiner Großmutter, kannst so toll singen wie dein Vater oder bekommst Sommersprossen wie dein Uropa, wenn du einen Tag in der Sonne genießt. Dich als Teil deiner Ahnenreihe zu verstehen und Dankbarkeit für ihre Geschenke zu entwickeln, kann sehr schön sein. 

Allerdings gibt es in jeder Familiengeschichte auch belastende Ereignisse und Faktoren, die bis in die jüngsten Generationen hineinwirken können. So konnten z. B. bei Nachkommen von Frauen, die eine Hungersnot erleben mussten, vermehrt Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes nachgewiesen werden.¹

Die Epigenetik untersucht auf biochemischer Ebene, inwiefern traumatische Erlebnisse von verstorbenen Verwandten ein Leben beeinflussen können, und ermöglicht so auch wertvolle Erkenntnisse darüber, wie wir Generationen alte Wunden in Form von transgenerationalen Traumata erkennen und heilen können.

 

Was ist der Unterschied zwischen Epigenetik und Genetik?

Die Epigenetik ist ein verhältnismäßig neues Forschungsfeld der Biologie und behandelt die Frage, welche Faktoren die Aktivitäten unserer Gene beeinflussen, die nicht auf Veränderungen der Genstruktur zurückzuführen sind. 

  • Während die Genetik also untersucht, wie unserer Erbsubstanz beschaffen ist und wie diese von einer zur anderen Generation übertragen wird,
     
  • geht es der Epigenetik darum zu erforschen, welche Gene unter bestimmten Umwelteinflüssen wie z. B. Stress, Ernährung und traumatische Erfahrungen aktiviert oder deaktiviert werden.

Stark vereinfacht ausgedrückt ist die Grundlage dafür die Beobachtung, dass Umwelteinflüsse biochemische Prozesse in unserem Körper anstoßen können, die zur Produktion von Proteinen und Enzymen führen, die wiederum für die Regulierung von Genaktivitäten zuständig sind. Das Erbgut an sich ändert sich also nicht, sondern andere Faktoren nehmen Einfluss auf die Aktivität unserer Gene.

 

Was ist ein transgenerationales Trauma?

Dank der modernen Forschung im Bereich der Epigenetik, wie sie auch am Institut für Chemische Epigenetik München (ICEM) betrieben wird, kann nun wissenschaftlich erklärt werden, was beispielsweise im Schamanismus oder allgemeiner in der spirituellen Ahnenarbeit schon seit jeher als Blockaden und Belastungen in der Ahnenreihe bearbeitet wird. 

Nicht verarbeitete traumatische Erfahrungen, die unsere Ahnen erleben mussten, wirken auf uns nicht nur, weil wir uns in der Familie vielleicht regelmäßig daran erinnern oder weil bestimmte Familiendynamiken das Trauma gewissermaßen am Leben erhalten. Vielmehr beeinflussen die Traumata unserer Ahnen unser Leben auch auf physiologischer Ebene – nämlich in Form veränderter Reaktionen auf die bereits genannten Umwelteinflüsse

So kann ein Mensch Symptome einer posttraumatischen Störung haben, ohne jemals selbst einer traumatisierenden Situation ausgesetzt gewesen zu sein. Diese Erkenntnis mag zunächst beängstigend klingen, sie kann uns aber dabei helfen, bestimmte Reaktionen und eventuelle Belastungsgefühle in unserem Leben besser zu verstehen und nicht nur für uns, sondern auch für kommende Generationen zu bearbeiten. 

Denn Forschungen insbesondere im Bereich der Onkologie lassen darauf schließen, dass durch Trauma verursachte epigenetische Veränderungen auch wieder rückgängig gemacht werden können, sodass die nächste Generation nicht mehr unter den Folgen des vererbten Traumas leiden muss.²

Manche Menschen verhalten sich wie traumatisierte Personen, obwohl sie selbst kein Trauma erlitten haben.
Terry O’Sullivan u. Natalia O’Sullivan in »Die prägende Kraft unserer Ahnen«

Ursachen für ein vererbtes Trauma

Welche Erlebnisse als traumatisch wahrgenommen werden und letztlich zu epigenetischen Veränderungen führen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Deshalb kann auch ein vererbtes Trauma ganz verschiedene Ursachen haben. Besonders häufig sind transgenerationale Traumata aber zurückzuführen auf:

  • emotionalen, physischen oder sexuellen Missbrauch
  • schwere Krankheiten oder lebensbedrohliche Unfälle
  • Kriegserfahrungen
  • strukturelle gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Ungleichheit oder Unterdrückung 

Solltest du solche extremen Belastungen in deiner Ahnenreihe vermuten, zögere bitte nicht, dir therapeutische Unterstützung zu suchen. Das sind schwere Themen, die du nicht allein angehen musst. Viele Therapeut:innen haben sich auf das Aufspüren und Lösen vererbter Traumata spezialisiert und können dir z. B. mit der EMDR-Methode helfen, Belastungen in Folge eines Traumas zu reduzieren.

Symptome und Anzeichen eines vererbten Traumas

Die Folgen einer traumatischen Erfahrung sind nicht immer leicht als solche zu erkennen. Das gilt bereits für Traumata, die auf Erlebnisse in unserer eigenen Kindheit zurückgehen. Umso schwieriger ist es natürlich, Traumata zu identifizieren, deren ursächliche Ereignisse wir gar nicht selbst erlebt haben – auch weil sie oft mit Gefühlen der Scham oder Schuld verbunden sind und deshalb verdrängt und/oder verschwiegen werden. 

Folgende Anzeichen können dir aber als Hinweise darauf dienen, dass du vielleicht ein transgenerationales Trauma in dir trägst:

Wann immer du also mit Verhaltensweisen oder Gefühlen konfrontiert bist, die dich blockieren oder belasten, die du aber nicht auf Ereignisse aus deiner eigenen Biografie zurückführen kannst, können vererbte Traumata die Ursache sein.

 

Wie du ein vererbtes Trauma heilen kannst

Nimmst du Symptome eines Traumas durch epigenetische Vererbung bei dir wahr oder vermutest eine Belastung aufgrund von Familienerzählungen oder eigenen Nachforschungen zu deinen Vorfahr:innen, gibt es neben der Therapie verschiedene Möglichkeiten, wie du die Heilung deines vererbten Traumas unterstützen und voranbringen kannst. Dazu gehören beispielsweise

Es liegt ganz bei uns, nach Strategien zu suchen, um entweder mit denselben Mustern weiterzumachen oder aber mit der Vergangenheit zu brechen und die an uns vererbten Vermächtnisse zu ändern.
Terry O’Sullivan u. Natalia O’Sullivan in »Die prägende Kraft unserer Ahnen«

Reflexionsfragen für deine Traumaarbeit

Unabhängig davon, welche Methode du für die Begleitung deiner Traumaheilung wählst, ist der erste und wichtigste Schritt, den du auf dieser Reise tust, immer der, mit dem du auf deine Familie zugehst. Informiere dich über die Geschichte deiner Familie und befrage auch deine lebenden Verwandten nach möglichen traumatischen Ereignissen. Schon das Aufspüren wiederkehrender Muster und eine mitfühlende Haltung gegenüber deinen Ahnen können für dein eigenes Leben Entlastung bringen.

Folgende Reflexionsfragen können dir als Ausgangspunkt für den Weg in deine Familiengeschichte dienen: 

  • Welche Informationen habe ich zu meinen Ahnen? Kenne ich ihre Namen, Lebensdaten und/oder Wohnorte?
     
  • Welche Krisen, Weltereignisse oder Katastrophen ereigneten sich zu Lebzeiten meiner Ahnen?
     
  • Gibt es Berichte über traumatische Ereignisse innerhalb der Familie?
     
  • Wie wurden diese Erfahrungen in meiner Familie verarbeitet? Gab und gibt es offene Gespräche darüber?
     
  • Gibt es andere lebende Verwandte, die unter bestimmten Verhaltensmustern, Ängsten oder Herausforderungen leiden, die möglicherweise auf ein vererbtes Trauma zurückgehen?
     
  • Spüre ich eine Verbindung zu meinen Ahnen? Welche Gefühle stehen dabei im Vordergrund?
     

Fazit: Die Heilung eines vererbten Traumas braucht Zeit

Traumata deiner Ahnen können dein Leben auf physiologischer Ebene beeinflussen, in Form veränderter Reaktionen auf Umwelteinflüsse, wie z.B. Krankheiten, Unfälle oder strukturelle gesellschaftliche Probleme. Wenn du dich mit Blockaden oder belastenden Gefühlen konfrontiert siehst, die keinen direkten Zusammenhang mit deiner eigenen Lebensgeschichte haben, könnte ein vererbtes Trauma die Quelle sein. 

Ein erster Schritt bei der Ahnenarbeit könnte sein, deine Familie nach bestehenden Traumata zu befragen und mehr über deine Vorfahr:innen herauszufinden. Es gibt auch spirituelle Wege, um mit deinen Ahnen in Kontakt zu treten, und die Möglichkeit, dich intensiv mit deiner Gefühlswelt und deinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

Entscheidend für die nachhaltige Verarbeitung und Lösung eines transgenerationalen Traumas ist in jedem Fall, dass du dir mit Geduld und Freundlichkeit begegnest. Die Heilung eines Traumas, auch eines vererbten Traumas, ist ein langsamer Prozess, der Rückschläge beinhalten kann. Lass dich dadurch nicht entmutigen und nimm dir die Zeit, die du für deinen Weg brauchst. Vielleicht hilft es dir, wenn du dir bewusst machst, dass die Lösung des vererbten Traumas nicht nur dein Leben leichter macht, sondern auch das deiner Nachkommen.

 

Quellen: 

Ahmed, F. Epigenetics: Tales of adversity. Nature 468, S20 (2010). https://doi.org/10.1038/468S20a

¹Li, C., Tobi, E.W., Heijmans, B.T. et al. The effect of the Chinese Famine on type 2 diabetes mellitus epidemics. Nat Rev Endocrinol 15, 313–314 (2019). https://doi.org/10.1038/s41574-019-0195-5

²Lustberg MB, Ramaswamy B. Epigenetic Therapy in Breast Cancer. Curr Breast Cancer Rep. 2011 Mar;3(1):34-43. doi: 10.1007/s12609-010-0034-0. PMID: 23097683; PMCID: PMC3477864

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