Spiritual Bypassing: Wenn wir aus Selbstschutz Gefühle unterdrücken

Wie du toxische Spiritualität erkennst und ein wirklich erfüllendes spirituelles Leben führst

Was ist Spiritual Bypassing?

Der Begriff Spiritual Bypassing (dt. spirituelle Vermeidung oder auch spirituelle Dissoziation) wurde zuerst durch den amerikanischen Psychologen John Welwood geprägt und beschreibt den Versuch, den Umgang mit unangenehmen Gefühlen, Konflikten und seelischen Wunden mithilfe von (pseudo-)spirituellen Praktiken bzw. Konzepten zu vermeiden. Welwood hat diese Tendenz, Probleme auf eine vermeintlich spirituelle Ebene zu verlagern, häufig in seiner therapeutischen Arbeit beobachten können.  

Anstatt die Verantwortung für das eigene Seelenleben zu übernehmen, halten sich Betroffene an sogenannte Halbwahrheiten, wie der spirituelle Lehrer Christopher Wallis sie nennt. Diese Halbwahrheiten leiten sich laut Wallis zwar aus tiefen spirituellen Erkenntnissen und Lehren ab, stellen aber stets nur eine stark verkürzte, oberflächliche Version derselben dar. 

So wird z. B. aus der komplexen tantrischen Lehre nāśivaṃ vidyate kvacit  (»Nichts existiert, was nicht Gott ist«) ein »Alles passiert zu deinem Besten«, das sich tausendfach in Kalendern, spirituellen Ratgebern und gut gemeinten Trostworten wiederfindet. Eine Floskel, die vielleicht kurzfristig emotionale Erleichterung schafft, aber verkennt, dass du selbst dafür Sorge tragen musst, dass aus der schwierigen Erfahrung etwas Positives hervorgeht. Niemand – keine Gottheit und nicht das Universum – schenkt dir Erkenntnis, außer du selbst.

Wenn es um tiefe und fundamentale Wahrheiten geht, macht es kurzfristig nicht viel aus, wenn man sich ein wenig irrt – aber langfristig sehr wohl.
Christoper Wallis in »Toxic Spirituality«

Wie Spiritual Bypassing zu toxischer Spiritualität führt

Du hast selbst schon spirituelle Floskeln gebraucht oder schnell eine Entscheidungskarte gezogen und das vielleicht als hilfreich empfunden? Keine Sorge, nobody is perfect! Spiritual Bypassing kann ein nützlicher Mechanismus sein, um uns vor emotionalem Stress und Überforderung zu schützen. Wenn wir aber regelmäßig aus Selbstschutz unangenehme Gefühle unterdrücken und die Verantwortung für unser eigenes Seelenleben an eine spirituelle Ebene abgeben, kann daraus eine dauerhaft toxische Spiritualität entstehen. 

Vielleicht sind dir selbst schon Personen begegnet – im Alltag, in den Medien oder auch im Yoga-Studio –, die von sich behaupten, ein spirituelles Leben zu führen, im Hinblick auf Selbsterkenntnis und Beziehungen aber scheinbar wenig bewusst sind. Ein Beispiel dafür wären auch Menschen, die beim Dating oder in Kennenlernphasen negative (oder auch positive) Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften allein auf ihr Sonnenzeichen oder das ihres Love Interests zurückführen. Das ist insofern toxisch, als einerseits eine tiefergehende Kommunikation unterbunden wird und andererseits keine Verantwortung für das eigene Handeln übernommen wird.

Warum toxische Spiritualität gefährlich sein kann

Während das Beispiel beim Dating noch harmlos erscheinen mag, kann toxische Spiritualität auch schwerwiegendere Folgen haben. Wenn du immer wieder Spiritual Bypassing nutzt, um dich vor deinen echten Emotionen zu verschließen, oder Gefühle unterdrückst und »Konflikte auslagerst«, kann es u. a. zu diesen Problemen kommen:

Außerdem kann toxische Spiritualität auch zu sozialer Isolation führen, indem sich Menschen nur noch mit Gleichgesinnten umgeben, während sie andere als zu wenig spirituell abwerten. Eine solche Abschottung kann im schlimmsten Fall sogar in eine sektenähnliche Dynamik münden, die Manipulation und Ausbeutung begünstigt.

 

Wie du toxische Spiritualität erkennst

Um die Gefahren toxischer Spiritualität zu vermeiden, ist es wichtig, dass du dich mit ihren Anzeichen auseinandersetzt – bei anderen genauso wie bei dir selbst.

Daran erkennst du, dass du toxischer Spiritualität durch andere ausgesetzt bist: 

  • Aufforderung zur Vermeidung statt echter Unterstützung: Du wirst ermutigt, unangenehme Gefühle loszulassen (oder an das Universum, an Engel, etc. abzugeben), anstatt sie zu durchleben und zu verarbeiten.
     
  • Good Vibes only: Du darfst negative Emotionen nicht zeigen oder aussprechen. Deine Probleme werden als Beweis für mangelnde spirituelle Entwicklung interpretiert.
     
  • Manipulation: Du wirst aufgefordert, etwas zu tun, das deinem Bauchgefühl widerspricht, weil es angeblich deiner spirituellen Entwicklung dient. 
     
  • Schuldzuweisung: Dir wird vermittelt, du seist selbst schuld an deinem Leid, weil du nicht spirituell genug bist bzw. nicht positiv genug denkst.
     
  • Dogmatismus: Eine bestimmte Lehre oder Praxis wird als der einzig wahre spirituelle Weg »verkauft«. 
     
  • Gurutum: Coaches, spirituelle Lehrer:innen oder Heiler:innen stellen sich als »erleuchtete« oder »höherwissende« Personen dar.


Daran erkennst du bei dir selbst toxische Spiritualität:

  • Überlegenheitsgefühle: Du wertest andere ab, weil sie keine spirituelle Praxis ausüben oder nicht genug an sich arbeiten.
     
  • Verdrängung negativer Gefühle: Du umgehst herausfordernde Emotionen mithilfe von Spiritual Bypassing.
     
  • Abhängigkeit von spirituellen Lehren, Coaches oder Praktiken: Statt deiner Intuition zu vertrauen, suchst du Lösungen und Rat im Außen (z. B. bei einem Guru, einem Life Coach oder bei einer Tarotlegung). 
     
  • Schuldgefühle: Du neigst dazu, schwierige Lebenserfahrung als Folgen von »schlechtem Karma« oder eines negativen Mindsets zu interpretieren.

Insbesondere, wenn du dich gerade in einer herausfordernden Lebenssituation befindest, ist es wichtig, solche Dynamiken in deinem Umfeld oder bei dir selbst genau zu beobachten. Denn gerade in Phasen des Leids neigen wir dazu, unreflektierte Aussagen und fragwürdige Praktiken zu akzeptieren, wenn sie uns nur etwas Linderung versprechen.

 

Wie du wahre Spiritualität leben kannst

Wahre Spiritualität aber kann dir im Gegensatz zu toxischer Spiritualität eine überaus wertvolle Quelle für Kraft und Orientierung sein. Und natürlich sind auch nicht alle spirituellen Coaches und Lehrer:innen toxisch, und sie können dir eine wahre Stütze auf dem Weg zu deinem persönlichen Glück sein. 

Echte Spiritualität allerdings bedeutet nicht, immer glücklich zu sein. Ein spirituelles Leben ist auf die Suche nach Klarheit ausgerichtet und diese ist nur zu finden, wenn wir das Leben in seiner Gesamtheit betrachten und annehmen – Glück und Leid, Licht und Schatten, Gestern und Heute und alles dazwischen. Dabei ist natürlich grundsätzlich jede spirituelle Praxis erlaubt, die dir auf diesem Weg hilft und deine Bedürfnisse und Grenzen sowie die aller anderen lebenden Wesen achtet.

Der wichtigste Schritt in ein wahrhaft spirituelles Leben ist aber das Üben radikaler Akzeptanz.

Da das Ziel des spirituellen Lebens darin besteht, klar zu sehen, was wahr ist und immer wahr war […].
Christoper Wallis in »Toxic Spirituality«

Übung: Spiritual Bypassing überwinden durch radikale Akzeptanz

Echte Spiritualität beginnt immer in dir. Wenn du bei dir selbst Anzeichen für Spiritual Bypassing oder toxische Spiritualität erkannt hast und wenn du mit herausfordernden Gefühlen zu tun hast, probiere gern einmal die folgende Übung:

1. Finde einen ruhigen Ort und komm in eine bequeme Sitzposition oder halte einfach einen Moment inne, wo auch immer du dich gerade befindest. Schließe die Augen, wenn es sich gut und sicher anfühlt.

2. Atme langsam ein und aus. Spüre, wie der Boden dich trägt. Erteile dir innerlich die Erlaubnis, jetzt genau hier zu sein.

3. Richte den Blick nach innen und frage dich: »Was fühle ich gerade?« Versuche, die Emotionen zu benennen, und spüre auch nach, ob es einen Ort in deinem Körper gibt, wo du diese als besonders stark empfindest.

4. Nimm für einen Moment einfach nur wahr, ohne zu bewerten oder etwas verändern zu wollen.

5. Formuliere Sätze zu den einzelnen Emotionen (Auch Leere ist okay!): »Da ist Wut/Trauer/Euphorie/Angst ...« (Nicht: »Ich bin wütend/traurig/euphorisch/ängstlich …«). So machst du dir bewusst, dass es sich bei dem schwierigen Gefühl nicht um einen festen Teil deiner Persönlichkeit, sondern um eine vorübergehende Erfahrung handelt.

6. Sage dir: »Egal, was ist, es darf sein. Ich bin stark und halte das aus.«

7. Stelle dir vor, wie dein Atem in das Gefühl oder die bestimmte Stelle im Körper hineinfließt und sich der Raum dort sanft weitet.

8. Lasse deinen Atem nach einer Weile wieder ganz natürlich fließen. Öffne evtl. langsam die Augen und spüre bewusst den Kontakt zum Boden.

9. Wenn du magst, reflektiere die Übung und halte in deinem Journal fest, was schwer/leicht war und/oder dich überrascht hat.

Sollte diese Übung dir noch schwer fallen, warte nicht auf große, schwierige Emotionen, sondern führe sie zunächst nur dann aus, wenn du dich sicher und ausgeglichen fühlst. Mit der Zeit wirst du merken, dass du auch herausfordernde Gefühle durchleben kannst, ohne sie sofort »loslassen« zu müssen.

 

Fazit: Dein Weg zu wahrer Spiritualität 

Echte Spiritualität bedeutet, klar zu sehen und dich selbst als Teil der Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Toxische Spiritualität z. B. in Folge von Spiritual Bypassing dagegen kann langfristig psychologische sowie psychosomatische Beschwerden verursachen und zu Beziehungsunfähigkeit und Isolation führen.

Es ist normal und okay, wenn du an dir selbst oder in deinem Umfeld Anzeichen von spirituell toxischen Dynamiken erkannt hast. Wir alle neigen dazu, aus Selbstschutz Gefühle zu unterdrücken und Konflikte zu umgehen. Allein, diese Tendenz wahrzunehmen und anzuerkennen, ist ein wichtiger Schritt auf deinem Weg ein erfülltes, spirituelles Leben zu führen. Denn sobald du dich selbst und andere in ihrer Gesamtheit akzeptierst und die Verantwortung für deine Seele übernimmst, lebst du authentische Spiritualität.

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