Toxische Positivität: Warum »good vibes only« nicht die Lösung ist

Was ist toxische Positivität? 

Das Thema »toxische Positivität« ist sicherlich etwas, was vielen sauer aufstößt. Denn wie kann es toxisch sein, positiv zu denken und mit einer positiven Einstellung den Herausforderungen des Lebens zu begegnen? Die Autorin Whitney Goodman beschreibt in ihrem Buch »Toxic Positivity« eben jene als das Problem unserer Zeit: Den Leidensdruck, immer alles positiv sehen zu müssen.

Wir zwingen uns das positive Denken auf, weil es die Gesellschaft von uns verlangt und alles andere als schlimmes Versagen gilt.
Whitney Goodman

Dabei geht es weniger darum, ein positives Denken zu verteufeln. Denn eine positive Grundeinstellung und ein gesunder Optimismus können uns dabei helfen, schwierige Situationen schneller und besser zu meistern.

Es geht vielmehr darum, damit aufzuhören, ständig dem Zwang zu folgen, glücklich zu sein und sich selbst und anderen die Schuld für emotionales Leid, Krankheiten und schreckliche Ereignisse zu geben. Es ist okay, auch mal nicht okay zu sein und unsere Gefühle sowie die Gefühle anderer anzunehmen und anzuerkennen – die positiven genau wie die negativen.

Es ist in unserer Gesellschaft leider nicht gerne gesehen, »schwarzzumalen« oder ohne Grund schlechte Laune zu haben. Wir werden dazu erzogen, unsere negativen Gefühle zu verdrängen und immer positiv gelaunt zu sein. 

Motivation erhalten wir durch unzählige Gute-Laune-Sprüche bei Social Media oder auf Postkarten mit Zitaten wie »good vibes only«. Die Welt wird dabei oft eingeteilt in Optimist:innen und Pessimist:innen, wobei man Letzteren nachsagt, dass sie zu negativ denken und ihnen deswegen Schlechtes widerfährt. 

 

Das Problem mit toxischer Positivität

Doch der Versuch, immer positiv zu denken, kann für uns schlimme Konsequenzen mit sich bringen. Wir leugnen damit nämlich auf Dauer unsere wahren Gefühle und Emotionen und können diese so auch nicht verarbeiten. Das kann uns auf längere Sicht körperlich sowie emotional erschöpfen und ausbrennen.

Besonders in Situationen, auf die wir von außen wenig bis gar keinen Einfluss haben, kommt die immerwährende Positivität an ihre Grenzen. Einem schwer kranken Menschen zu sagen, dass er selbst verantwortlich für sein Leid ist, baut immensen Druck auf und geht mit Schuldgefühlen einher.

Daher sollten wir in folgenden Situationen besonders achtsam mit unserer Positivität umgehen:

Toxische Positivität Frau hebt freudestrahlend die Arme auf Stuhl

Ein Beispiel für toxische Positivität

Um zu verdeutlichen, wie toxische Positivität bei erkrankten Menschen wirken kann, kann das folgende Beispiel helfen:

Folgende Situation

Jenny ist 15 Jahre alt und an schwerem Lungenkrebs erkrankt. Weder die Eltern noch sie selbst rauchen oder haben sich je irgendwelchen anderen Substanzen oder Umständen ausgesetzt, durch die sie diese Krankheit aktiv und wissentlich hervorrufen hätten können. Dennoch ist sie schwer erkrankt und ihr Umfeld sagt zu ihr kurz nach der Diagnose die folgenden Sätze: 

  • »Du musst nur fest genug an deine Heilung glauben, dann wird das schon.«
  • »Du bist nicht ohne Grund krank geworden, du hast es selbst in der Hand, wieder gesund zu werden.«
  • »Gott hat das so gewollt. Wer weiß, was es Gutes mit sich bringt.«
  • »Mit der richtigen Einstellung, wirst du wieder gesund.«
  • »Sei nicht so traurig. Alles wird sich zum Positiven wenden.«

 

Das Problem

Das klingt doch zunächst positiv und hilfreich, oder? Nein, diese und auch andere Sätze können allesamt toxisch für Jenny sein. Warum? Weil sie ihr einerseits das Gefühl geben, selbst Schuld an ihrer Situation zu sein. Andererseits erwecken diese Aussagen die falsche Hoffnung in ihr, sie habe Einfluss auf die Krankheit, indem sie »nur etwas positiver denke« und »ein besserer Mensch werde, als sie es bisher war«.

Gesunder Optimismus lässt sowohl die Realität als auch Hoffnung zu.
Whitney Goodman

Die Lösung

Was wir hier verstehen dürfen: In dieser Situation ist ein Mensch schwer erkrankt, der selbst von allen Gefühlen überrollt wird und große Angst hat. Was dies Person in erster Linie braucht, ist Verständnis und das Gefühl, mit allen Emotionen richtig zu sein und angenommen zu werden. Für Jenny können also folgende Sätze hilfreich sein:

  • »Wenn du etwas brauchst, melde dich jederzeit bei mir.«
  • »Ich habe etwas recherchiert und bin auf eine neue Methode bei Lungenkrebs gestoßen, soll ich sie mit dir teilen?«
  • »Das ist sicher schlimm für dich. Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin.«
  • »Du musst nicht darüber reden, wenn du es nicht möchtest.«

Wir sollten unser Gegenüber immer fragen, was es gerade braucht und welche Worte für sie/ihn individuell hilfreich sind. 

Dieses Beispiel soll dir zeigen, wie wichtig es sein kann, achtsam mit deinen Worten umzugehen, und dass Positivität nicht in jeder Situation angebracht und richtig ist. Auch wenn die Ratschläge sicher gut gemeint sind, können sie auf dein Gegenüber toxisch wirken.

 

Toxische Positivität: Ursachen

Kaum jemand hat eine böse Absicht, wenn er einer anderen Person positive Ratschläge gibt. Du sicher auch nicht. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb es uns so schwerfällt, von toxischen positiven Phrasen abzusehen. Diese können folgende sein:

  • Wir wollen das Gespräch schnell beenden, da uns die Situation überfordert oder unangenehm für uns ist.
     
  • Wir denken, es ist gut und richtig, andere davon zu überzeugen, dass sie immer gut gelaunt sein müssen.
     
  • Bei Fehlschlägen können wir unsere eigenen Gedanken als Ursache verantwortlich machen.
     
  • Wir können nur schwer die negativen Emotionen anderer, geschweige denn die eigenen aushalten.
     
  • Es ist einfacher für uns, auszuweichen oder die Situation zu verleugnen.
     
  • Unser Wunsch ist es, dass es dem anderen so schnell wie möglich besser geht.
     
  • Wir wollen keine Verantwortung übernehmen und die scheinbare Kontrolle über die Situation und unser Leben behalten.

 

Die Lösung für toxische Positivität

Es ist wichtig, dass wir erkennen, dass auch schlechte Laune einen Sinn hat. Nämlich den, in Kontakt mit unseren wahren Gefühlen, Bedürfnissen und Werten zu kommen. Wir können lernen, Angst, Stress und Konflikte positiv für uns zu nutzen, indem wir genau hinschauen, was wir und andere eigentlich brauchen.

Was uns dabei helfen kann, ist Folgendes:

  • Beziehungen anhand der eigenen Werte wählen
  • sich und anderen erlauben, alle Emotionen anzunehmen
  • im eigenen Tempo nach Lösungen suchen
  • verstehen, dass wir auch Freude empfinden dürfen, wenn es schwierig ist
  • akzeptieren, dass es sowohl gute als auch schlechte Seiten an Situationen geben kann und beide Raum finden dürfen

 

Fazit: Deine Gefühle zu verdrängen schadet dir langfristig

Toxische Positivität beschreibt den Zwangszustand, ständig Glück und Freude empfinden zu müssen. Wichtig zu betonen ist: Gegen eine grundsätzlich positive Einstellung ist nichts einzuwenden. Sie sollte jedoch echt und authentisch bleiben. Wir sollten nicht das Gefühl haben, eine positive Einstellung haben zu müssen, da negative Gefühle gerade nicht erlaubt sind. 

Negative Gefühle gehören genauso zu unserem Leben wie die positiven und bringen uns oft erst in Verbindung mit uns selbst. Wir sollten daher lernen, sie anzunehmen und auch anderen den Raum dafür zu lassen.

Besonders in Krisensituationen sind wir häufig einfach noch nicht bereit, positive Ratschläge anzunehmen – so gut sie auch gemeint sind. Im Gegenteil: Solche toxischen Aussagen können uns sogar entkräften und entmutigen. Daher ist es wichtig, dich in achtsamer Kommunikation zu üben und dir selbst sowie deinem Gegenüber genügend Mitgefühl und Verständnis entgegenzubringen. So gehen wir gestärkt aus schwierigen Situationen hervor.
 

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