Konfliktscheu? Wie du lernst, konfliktfähig zu werden

Bei jedem Konflikt geht es um Auseinandersetzungen – mit Zielen, Erwartungen, Einstellungen, Interessen oder Meinungen anderer Personen, Gruppen oder auch mit uns selbst. Das erzeugt häufig emotionalen Stress, kann aber notwendig sein, um positive Veränderungen und persönliche Entwicklung zu bewirken.

Im offenen Konflikt können wir uns über Meinungsverschiedenheiten mit unseren eigenen Werten auseinandersetzen und neue Perspektiven gewinnen. Außerdem werden in der Auseinandersetzung die Kommunikationsfähigkeit gefördert und kreative Prozesse angeregt, die letztendlich zu innovativen Lösungen führen können.

Entscheidend für den positiven Ausgang von Konflikten ist allerdings die Konfliktfähigkeit sowie -bereitschaft bei allen Konfliktparteien. 

  • Ertappst du dich dabei, dass du Auseinandersetzungen vermeidest?
     
  • Sitzt du Konflikte lieber aus oder ziehst dich ganz aus der Situation zurück? 

Durch unsere Vermeidungsstrategien verwehren wir uns nicht nur die Chance, persönlich zu wachsen, wir nehmen auch anderen die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und uns näher zu kommen. Probleme werden sich nicht dadurch lösen, dass wir sie ignorieren. Wir wissen das – trotzdem fällt es vielen von uns sehr schwer, sich Konflikten zu stellen.

Zu lernen kann auch heißen, bisherige Überzeugungen infrage zu stellen, Annahmen zu revidieren und Entscheidungen zu widerrufen.
Thomas W. Albrecht in »Besser streiten«

Konfliktscheue in der Psychologie: Harmoniesucht

Konfliktscheue wird in der Psychologie häufig unter dem Stichwort Harmoniesucht diskutiert. Selbstverständlich haben alle Menschen den Wunsch nach einem harmonischen Lebensumfeld, harmoniesüchtige Menschen jedoch vermeiden jede Art der Konfrontation, auch wenn sie dazu ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen oder gar ganz außer Acht lassen müssen.

Das kann so weit gehen, dass Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal sich sozial isolieren, um das Risiko von Auseinandersetzungen und damit Ablehnung zu minimieren. In dieser extremen Ausprägung sprechen Psycholog:innen auch von einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die auch Merkmal eines vulnerabel-fragilen Narzissmus sein kann.

Wichtig: Solltest du den Verdacht haben, unter extremer Harmoniesucht oder einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung zu leiden, zögere nicht, dir professionelle psychologische Hilfe zu suchen.

Fühlst du dich emotional stabil und möchtest deine Konfliktscheue überwinden, gibt es einiges, was du selbst für eine bessere Konfliktfähigkeit tun kannst.

 

Konfliktunfähigkeit erkennen: Symptome für Konfliktscheue

Vielleicht ist dir längst klar, dass du klassische Konfliktsituationen, zum Beispiel im Job, vermeidest, wann immer du kannst. Womöglich hast du auch bereits bemerkt, dass du Auseinandersetzungen gezielt aus dem Weg gehst und dich dafür sogar bewusst persönlich einschränkst oder selbst sabotierst. Andere Symptome lassen dagegen nicht ganz so offensichtlich auf eine Konfliktscheue schließen, können aber durchaus wichtige Anzeichen dafür sein, dass du dein Konfliktverhalten überdenken solltest: 

  • Selbstzweifel: Konflikte entstehen sehr oft aus kollidierenden Wertesystemen heraus. Kennen und leben wir unsere Werte nicht, beziehungsweise schreiben uns selbst und unseren Fähigkeiten keinen Wert zu, können wir diese auch nicht in einer Auseinandersetzung vertreten. In der Folge stellen wir uns dem Konflikt gar nicht erst, sondern zweifeln an uns selbst und unserer Einschätzung.
     
  • (Not-)Lügen: Ertappst du dich häufig bei kleineren (oder auch größeren) Lügen, die vermeintlich dazu dienen sollen, die Gefühle anderer zu schonen und/oder Harmonie in einer Gruppe zu fördern (»Es macht mir wirklich nichts aus, alleine den Abwasch zu machen, geht ruhig schon vor.«)? Auch dabei geht es am Ende darum, Auseinandersetzungen und Ablehnung zu vermeiden.
     
  • Vergeben und vergessen: Du kannst leicht und schnell verzeihen. Das hört sich vielleicht erst einmal nach einer positiven Eigenschaft an, ist aber im Grunde auch nur eine Strategie zur Vermeidung einer echten Auseinandersetzung und kann außerdem für ein vermindertes Selbstwertgefühl sprechen. Natürlich solltest du kleinere Fehltritte nicht ewig nachtragen, bist du aber verletzt worden, darfst du diese Verletzung auch kommunizieren. Denn in deinem Inneren bleibt sie bestehen und schafft so Distanz zwischen dir und deinem Gegenüber.
     
  • Abhängigkeit in Beziehungen: Es spricht nichts gegen eine starke Bindung in Partnerschaften oder auch freundschaftlichen Beziehungen. Konzentriert sich aber deine ganze Aufmerksamkeit auf einen einzigen Menschen, entsteht schnell eine emotionale Abhängigkeit von der Anerkennung durch diesen Menschen. Und das wiederum kann schnell zu Überanpassung führen, mit welcher du versuchst, die Ablehnung deiner Liebsten zu verhindern.

Woher die Angst vor Konflikten kommt

Die Ursachen für die Angst vor Konflikten sind vielfältig und individuell, denn sie hängen von unserem persönlichen Hintergrund ab. Sehr oft ist Konfliktscheue bei Erwachsenen aber auf negative Erfahrungen aus der Kindheit zurückzuführen. Vielleicht erkennst du dich, in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität, in den folgenden möglichen Gründen für Konfliktangst wieder – dort kannst du ansetzen, wenn du deine Konfliktfähigkeit verbessern möchtest. 

  • Deine Eltern oder Bezugspersonen haben sich nie in deiner Gegenwart gestritten und dann wieder vertragen.
     
  • Deine Eltern oder Bezugspersonen haben mit Unverständnis oder sogar Wut auf deine Bedürfnisse reagiert.
     
  • Du hast als Kind erlebt, dass Bezugspersonen dich nach einem Konflikt mit Liebesentzug (Schweigen, körperliche Ablehnung) bestraft haben.
     
  • Eine oder mehrere Bezugspersonen haben in Streitsituationen emotionale oder physische Gewalt ausgeübt.
     
  • Du hast in deiner Kindheit erfahren, wie Konflikte zwischen Bezugspersonen zu traumatischen Verlusterfahrungen geführt haben.
Streit und Konflikte lassen sich am besten auf Augenhöhe lösen.
Thomas W. Albrecht in »Besser streiten«

Richtig streiten lernen: Tipps für mehr Konfliktfähigkeit

Hast du die Symptome und mögliche Ursachen für deine Konfliktscheue reflektiert, bist du bereits auf einem guten Weg zur besseren Konfliktfähigkeit. Der nächste Schritt ist es, dir Methoden wie die folgenden anzueignen, mit denen du schwierige Situationen leichter bewältigen kannst:

1. Konflikte akzeptieren

So paradox das auch klingen mag: Richtig streiten zu können ist eine wichtige Kompetenz, um harmonische Beziehungen zu führen. Denn nur wenn wir unsere Werte und Bedürfnisse kommunizieren und uns andersherum mit denen unseres Gegenübers auseinandersetzen, kann echte Nähe entstehen.

Ein wichtiger Schritt zu mehr Konfliktkompetenz liegt also darin, zu akzeptieren, dass wir Konflikte nicht verhindern können (und sollten). Selbst wenn wir im Außen keinen Streit führen, bleiben die Auseinandersetzungen mit unseren Werten, Interessen und Meinungen im Inneren bestehen und bauen Distanz zu den Personen auf, denen wir uns eigentlich besonders nah fühlen möchten.
 

2. Konflikt und Person trennen

Wir empfinden Konfliktsituationen oft deshalb als bedrohlich, weil wir sie auf uns als Person oder unsere Fähigkeiten beziehen. Beispielsweise tendieren wir dazu, kritisches Feedback im Job als Angriff auf unsere gesamte Persönlichkeit wahrzunehmen, anstatt uns auf das betreffende Thema zu konzentrieren.

Um mit Konflikten besser umgehen zu können, ist es aber wichtig, zwischen unserer Person und dem Gegenstand des Konflikts zu unterscheiden. Dass andere unsere Meinung nicht teilen oder im Einzelnen andere Werte vertreten als wir, heißt nicht, dass sie uns als ganze Person abwerten wollen.

3. Konfliktsituationen trainieren

Du kannst deine Konfliktfähigkeit auch ganz konkret in einer fiktiven Kommunikationssituation trainieren. Bitte dazu eine (wichtig!) vertraute Person, dein Gegenüber in einem Rollenspiel zu sein. Übe an dieser Person, wie du deine Bedürfnisse/Vorstellungen/Meinungen in der Partnerschaft, im Job oder in Freundschaften respektvoll kommunizieren kannst. Achte dabei auf:

  • Ich-Botschaften: Indem du das Thema des Konflikts aus deiner eigenen Perspektive darlegst, lässt du Raum für den Standpunkt deines Gegenübers.
     
  • Sachlichkeit: Konzentriere dich auf das Thema des gegenwärtigen Konflikts.
     
  • Fokus: Vermeide den Bezug auf vergangene Konflikte und generalisierte Vorwürfe (»Nie …« und »Immer …«).
     
  • Aktives Zuhören: Was sagt dein Gegenüber? Stelle Fragen, wenn du etwas nicht verstehst, und wiederhole die Antworten in eigenen Worten, um sicherzustellen, dass sie so auch wirklich gemeint waren.

So kreierst du eine wertschätzende Kommunikationssituation, die auf gegenseitigem Respekt beruht und deshalb auch zu einer Konfliktlösung führen kann, die für beide Seiten zufriedenstellend ist.

 

Fazit: Konflikte lösen heißt Streiten lernen

Streit und Konflikte gehören zu unserem Leben. Denn immer dort, wo sich zwei oder mehr Menschen begegnen, treffen auch unterschiedliche Werte, Vorstellungen und Meinungen aufeinander. Das bleibt auch dann der Fall, wenn wir diese nie offen kommunizieren.

Um harmonische Beziehungen führen zu können, müssen wir deshalb lernen, Konflikte als Teil unserer Lebensrealität anzunehmen und uns ihnen ohne Angst vor Ablehnung zu stellen. Dazu gehört zu hinterfragen, welche Erfahrungen unserer persönlichen Konfliktscheu beziehungsweise Harmoniesucht zugrunde liegen und wie wir einzelne Konflikte bewerten. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir Streit als unangenehm empfinden, es kann aber deutlich leichter werden, wenn wir unsere Konfliktfähigkeit regelmäßig bewusst trainieren.

 

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