Angst haben: Heute nicht! Wie du der Angst begegnest

Manchmal fällt einen die Angst an wie ein wildes Tier. Zum Beispiel in den ersten Corona-Tagen, als man noch kein Hygieneprofi war. Die Angst saß mitten im Herzen und quetschte sich so herum wie die Berufspendler Tokios in der U-Bahn. Angst gilt ja nicht nur für plötzliche Pandemien. Angst hat immer Saison.

Ich stelle mich zwar ohne Probleme vor ein Millionenpublikum, aber laden sie mich mal zu ihrer Geburtstagsfeier mit 15 Unbekannten ein. Bevor ich den Unterhaltungskasper gebe, sterbe ich kurz mal. Und frage mich, während ich am besten noch als letzte in die Runde platze: Soll ich jetzt allen die Hand geben oder reicht einmal winken? Ganz Bekloppte klopfen ja auf den Tisch, sagen „Ich mach dann mal so!“, als befände man sich in einem bayerischen Traditionsbrauhaus und würde gleich den ranzigen Bierkrug aus dem Familienschließfach ziehen.

Not my style. Winke lieber stilvoll wie die Queen - und fühle mich trotzdem blöd. Aber jetzt jedem die Flosse schütteln und sagen: „Also, ich kenne Sophie über Leonie, weil ihre Freundin mal die WG-Mitbewohnerin von meinem Ex aus Uni-Zeiten nach dem Umzug von Köln nach Hamburg war...“ Sie verstehen?

 

Angst haben nervt

Aber zurück zur Angst: sie zu haben nervt. Und sie trägt so viele Gewänder. Hilft auch Älterwerden nicht unbedingt. Das Verrückte ist ja, je weniger herausfordernde Termine vor einem liegen, desto mehr Kapazitäten hat der Kopf aus ganz banalen Dingen Horrorszenarien zu zimmern. Wenn man nicht morgen einen Bungeesprung oder einen Kaiserschnitt geplant hat, dann werden schon alltäglichste Fragen manchmal zugspitzenhoch. Wie die Frage ans Ordnungsamt, ob fünf Minuten den Kohl echt so fett machen. 

Ich: „Ich bin doch nur fünf Minuten zu spät. Wollen Sie nicht auf das Knöllchen verzichten?“ 

Mein Gegenüber: „Nein, mein Leben braucht auch einen Sinn und Sie können die Uhr, oder?“ 

 

Angst hat immer Saison

Und das Miese ist: Die Angst trägt auch in jeder Saison eine neue Jeans. Zuletzt highwaist ohne saubere Nähte. Noch vor zehn Jahren hätte man sich darüber lustig gemacht – Jeans bis unter die Achseln hochziehen? Unmöglich! Jetzt brauchst du die  und Mut. Als Teenie hast du Angst, dass dein Schwarm diesen winzig kleinen Pickel auf deiner Stirn wahrnehmen könnte. Als Studentin, dass du die Prüfung nicht schaffst, obwohl du alle Bücher noch mit 2,5 Glas Gin Tonic herunterbeten könntest. Als Mutter, dass das Baby am Schnupfen und du am Schlafmangel sterben könntest. Und als Berufstätige, dass du niemals deinem Vorgesetztem sagen wirst, was für ein feiger, unemanzipierter Lappen er doch eigentlich ist.

Zuletzt kroch mir die Angst den Nacken hoch, als ich eine Freundin ins Krankenhaus fuhr. Wir ahnten schon, dass sie nicht reindurfte in der „schönen neuen Virus-Welt“. Die Angst vor dem „Nein.“ war wie mein Klack-Klack-Trauma der Desinfektionsbügel, die Gerüche auf den Fluren, das Knistern der Einmalhandschuhe und der Schutzschürzen. Aber: Hinter jeder zitternden Angst, wartet ja der lächelnde Mutausbruch. 

 

Wie mit ständiger Angst leben?

Anruf bei Coach- und Angst-Profi Sabine Dinkel, die seit 2015 mit Krebs lebt, den sie fast liebevoll Eierstock-Schnieptröte nennt und mit Humor kleinkriegt:

„Was machst du gegen die Angst?“ will ich wissen.

„Ich habe meiner Angst einen lustigen Namen verpasst. Sie heißt Hildegard. Sie kommt oft morgens nach dem Aufwachen zu mir auf die Schulter gekrabbelt, wenn ich mich noch nicht gut wehren kann. An Tagen, wo ich mir Sorgenpause verordnet habe, sagt ich ganz laut STOPP, dann trollt sie sich oft von dannen. Wenn das nicht klappt, schreibe ich Angsttagebuch, indem ich alles notiere, womit mich Hildegard in diesem Augenblick peinigt. So schaffe ich es, ihre Stimme aus meinem Kopf ins Buch zu verbannen und fühle mich danach oft sehr viel besser. 

Außerdem sehe ich zu, dass ich mich bewege, indem ich mit Hildi 30 Minuten um den Block walke. Wenn das Wetter zu schlecht ist, tanze ich zu lauter Musik oder radel auf meinem Ergometer. Wenn es dann immer noch nicht reicht, muckel ich mich auf dem Sofa ein. Entweder ich lese oder zeichne, höre Podcasts oder schlafe.

Mir fallen immer wieder neue Dinge ein, um einen konstruktiven Umgang mit Hildegard zu finden. Sie hat ja eine wichtige Funktion und will, dass es mir gut geht. Dennoch will ich die Regisseurin bleiben und ihr nicht ständig die Hauptrolle gönnen. Es reicht, wenn sie ab und zu ihre Auftritte hat.“

Die Strategie gefällt mir.

 

Angst als Freund sehen

„Meinst Du, man kann sich die Angst eigentlich zum Freund machen?“

„Klar! Indem ich Geschichten über sie erzähle und die Angst als Teil von mir sehe. Wenn sie allzu stark an mir rupft, schaue ich sie trotz Herzklopfen beherzt an. Dann erst kann ich Vereinbarungen mit ihr treffen und mich gezielt mit ihr verabreden. Und das am liebsten, zu meinen Bedingungen. Klar, das klappt nicht immer, manchmal ist sie bockig. Doch sage ich mir, dass ich wie ein Korken auf der (Angst-)Welle reite, jedoch niemals untergehe. Ich kalkuliere Ängste bewusst mit ein, gebe ihnen gezielt Raum und rede auch mit anderen darüber. Geteilte und gestaltete Ängste sind weniger gruselig. Mit diesem Prinzip fahre ich eigentlich ganz gut. Ich kalkuliere ein, dass im Leben auch mal ein Gewitter im Anmarsch ist, ohne dass ich gleich vom Blitz getroffen werde. Und auf Regen folgt doch irgendwann wieder Sonnenschein.“ 

 

Der Angst begegnen

„Beherzt ins Gesicht gucken – das ist auch mein Rezept. Und dann einfach anfangen. Verrückterweise machen es sich ja die meisten Frauen schwerer. In den meisten Männern scheint etwas mehr „Trump“ zu stecken. Die machen das, was sie wollen. Ich nehme mir ja immer vor, etwas mehr „Toupet zu tragen“. Frei nach dem Motto: „Nein, mache ich nicht/ habe ich nie gesagt/ was interessiert mich mein Gelaber von gestern, alles fake news/ ich muss nicht gemocht werden.“ Ist nicht einfach, sage ich. 

„Ich übe mich täglich im freundlichen Nein sagen,“ erklärt mir Sabine. „Durch meine Krebserkrankung kann ich inzwischen sehr viel besser Prioritäten setzen. Es gibt Tage, da wache ich gefühlt mit nur 40% in meinem Energiespeicher auf. Dann hinterfrage ich mich ganz genau, bevor ich zu- oder absage. Dazu habe ich mir vier Filter ausgedacht:

  1. Bringt es mir Freude?
  2. Sichert es mein Weiterleben?
  3. Füllt es meinen Kühlschrank?
  4. Tappe ich gerade in die Nettigkeitsfalle?

Seitdem ich meine Entscheidungen durch diese vier Filter schicke, geht es mir wesentlich besser. Ich komme innerhalb kürzester Zeit zu einem Ergebnis. Das Gute: ich mache Dinge nicht mehr aus reiner Höflichkeit oder aus Angst davor, mich unbeliebt zu machen. Klar, meine Umsatzsteuervoranmeldung besteht keinen der vier Filter. Aber wenn ich sie nicht mache, ist mir der Preis zu hoch, den ich dafür zahlen würde.“

Passend zum Thema: Wie du Angst und schwierige Emotionen mit der RAIN Methode loslassen kannst. 

 

„Die klaue ich dir ab sofort!“ beschließe ich lachend. „Wobei: Ich glaube, ich habe die auch schon zum Aussieben benutzt. Nur nicht bewusst.“ 

Zufrieden schreibe ich mir gedanklich eine To-Do-Liste, während ich durch unsere Küche tanze: 

  1. Etwas mehr Trump in höflich werden
  2. Handtaschenintoleranz auf Stühlen demonstrieren
  3. Knöllchen als Luxus begreifen
  4. Angst an die Hand nehmen und losgehen

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