Hikikomori Syndrom: Wege aus der sozialen Isolation

Wem die Welt da draußen zu viel wird, der schließt sich ein. Nicht nur für ein paar Stunden, denn Hikikomori ist mehr als ein »schlechter Tag«. Hikikomori nennt man das Phänomen aus Japan, ebenso wie die Betroffenen selbst. In dem Inselstaat steigt die Zahl der Betroffenen stetig – und auch in der westlichen Welt breitet sich dieses Phänomen aus. 

Hikikomori (zu Deutsch: »Die sich wegschließen«) wählen aus Überforderung von der (Arbeits-)Welt die totale Isolation und verlassen über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg nur in Ausnahmefällen ihre eigenen vier Wände. Sie verlassen den Arbeitsmarkt oder steigen nach Abschluss von Ausbildung oder Universität gar nicht erst ein, stattdessen verschließen sie sich in ihren Kinderzimmern und ihre Eltern müssen sie finanziell bis ins hohe Alter mittragen. 

 

Das steckt hinter dem Hikikomori Syndrom

Doch was bewegt vor allem junge japanische Männer dazu, sich zu Hause einzuschließen und die soziale Isolation einem Arbeitsplatz vorzuziehen? Hikikomori beginnt meist mit ein paar wenigen Tagen, an denen es die Betroffenen physisch und psychisch nicht schaffen, das Haus zu verlassen und einer Tätigkeit nachzugehen.

Oftmals, weil sie sich auf dem starren Arbeitsmarkt in Japan abgehängt fühlen und stark an sich zweifeln. Manchmal verpassen sie in nur ein paar unmotivierten Wochen den Anschluss in einer von Strebsamkeit getriebenen Gesellschaft und fallen anschließend rasant durch das Raster. 

Denn: Japaner:innen haben meist nur einmal die Chance auf einen guten Job und zwar direkt nach der Universität. Wer diese Zeitspanne verpasst, fühlt sich schnell verloren. Ein guter Job mit Festanstellung und stetig steigendem Gehalt ist in Japan traditionell mit einem hohen Ansehen gleichzusetzen. Von diesen Jobs gibt es seit der Wirtschaftskrise vor etwa 30 Jahren allerdings immer weniger. 

Bei Angestellten führte die strikte Arbeitskultur mit vielen Überstunden und wenig Urlaubstagen in Japan bereits zu vielen Suizidfällen. Das Wort für den Tod durch Überarbeitung lautet karoshi. Vor etwa 15 Jahren ist auch Hikikomori zu einem festen Begriff in Japan geworden. Die Folgen der sozialen Isolation sind immens.

 

Hikikomori fühlen sich gegenüber den überaus harten Spielregeln einer Gesellschaft, in der fast nur der berufliche und ökonomische Erfolg zählt, nicht gewachsen und überflüssig.
Te Wildt / Schiele

Soziale Isolation: Symptome und Auswirkungen

Aus den ersten paar Tagen in Isolation werden bei Hikikomori Wochen, Jahre und Jahrzehnte. Dass die sozialen Kontakte dabei ebenfalls auf ein Minimum sinken und oftmals nur über Chats im Internet erfolgen, hängt stark mit der traditionellen Erwartungshaltung in Japan zusammen. Wer anders ist und aus der Reihe tanzt, dem wird oft mit Argwohn begegnet. 

Zum Gefühl von Minderwertigkeit mischt sich dann noch die Scham über die selbstgewählte soziale Isolation. Der Kontakt zu Freund:innen, die der Konformität der japanischen Gesellschaft folgen, führt den Hikikomori nur noch mehr vor Augen, wie sehr sie vermeintlich versagt haben. Und auch die Eltern verschweigen meist, dass ihr Kind ein Hikikomori ist, oder helfen, es zu verstecken. Ein Teufelskreis. 

 

Japanerin hinter Kirschbaum

Hikikomori, Burn-out und Depression: Folgen der sozialen Isolation

Man geht mittlerweile davon aus, dass das Hikikomori Syndrom ein kulturgebundenes ist, das sich auch in anderen Teilen der Welt ausbreitet. Denn Globalisierung und technischer Fortschritt erhöhen auch in der westlichen Welt den Leistungsdruck an jede:n einzelne:n. 

Bei dem Übermaß an verschiedenen Anforderungen, die jede:r innerhalb der Arbeitswelt und Gesellschaft erfüllen soll, ist es kein Wunder, dass auch die emotionale Überforderung steigt. Nicht ohne Grund sind moderne Krankheiten wie Burn-out und Burn-on immer weiter verbreitet. 

In Japan soll es mittlerweile 1,2 Millionen Hikikomori geben. Und auch in Deutschland gilt laut einer Studie der Goethe-Universität von 2011 jede:r achte Jugendliche als sozialphobisch – die Corona-Pandemie mit monatelangem Lockdown und Schulschließungen könnten diese Zahl nun noch erhöhen. 

Anders als das Burn-out-Syndrom ist Hikikomori noch nicht als (psychische) Erkrankung anerkannt. Studien aus Barcelona und Japan zeigen allerdings, dass Hikikomori häufig von Krankheiten wie Depressionen, Panik- und Persönlichkeitsstörungen begleitet wird.

Ob diese Depressionen aus der sozialen Isolation heraus entstehen und als Folgen zu deuten sind, oder ob die Krankheit Betroffene erst dazu verleitet, sich zu isolieren, ist allerdings bislang nicht eindeutig geklärt. Was kann man tun bei sozialer Isolation?

 

Hikikomori: Was tun bei sozialer Isolation?

In Japan ist das Problem der Hikikomori mittlerweile so weit verbreitet, dass es zahlreiche NGOs gibt, die Betroffenen und deren Eltern helfen wollen. Sie richten sich gezielt an Hikikomori und möchten ihnen Wege aus der Isolation aufzeigen. Für die Betroffenen ist schon der Gang zu einem der Treffen ein erster riesiger Schritt. Auch Wohnheime, in denen für Hikikomori soziale Kontakte zu Mitbewohner:innen als Pflicht auf der Tagesordnung stehen, ein Fernseher nur im Gemeinschaftsraum steht und Internet verboten ist, sollen den Weg aus der Isolation bereiten. 

Und hier in Deutschland, wo das Phänomen Hikikomori den Begriff Sozialphobie trägt? Wer die soziale Isolation durchbrechen möchte, braucht vor allem eines: Geduld. Auch die Hilfe von Angehörigen ist meist unerlässlich.

Für sie gilt: Wenn das Kind über Wochen und Monate sein Zimmer nicht verlässt, ist das keine Phase mehr, sondern ein bedenkliches Verhalten. Man sollte in dem Fall immer wieder das Gespräch suchen und seine Sorgen mitteilen. Gemeinsam, auch im Rahmen einer Therapie, lassen sich dann Lösungsansätze finden. 

 

Wer sein Kind aus der sozialen Isolation befreien möchte, aber nicht weiß, wie, kann klein anfangen: Eine Möglichkeit ist es, um Hilfe im Haushalt zu bitten. Kleine Erfolgserlebnisse, etwa beim Einkaufen, können helfen, den Betroffenen ihr Selbstwertgefühl zurückzugeben und ihnen aufzuzeigen, dass sie nicht völlig handlungsunfähig sind.

Eltern und Angehörige sollten die Betroffenen immer wieder ermutigen und ihnen gut zureden. Allerdings sollten sie auch daran denken, die Betroffenen in kleinen Schritten aus der Isolation ins Leben zurückzuführen, um keine Panikattacken zu provozieren. 

Da Hikikomori oftmals mit Depressionen und Angstzuständen einhergeht, sollte man letztendlich eine Therapie nicht scheuen. Dort kann man dem Ursprung der Sozialphobie auf den Grund gehen und Betroffenen Schritt für Schritt raus aus der sozialen Isolation und rein ins reale Leben zurück helfen.

 

Fazit zum Hikikomori: raus aus der sozialen Isolation

Zusammengefasst kann man Hikikomori also als kulturelles Phänomen, aber auch als psychische und psychiatrische Krankheit begreifen, das Betroffene in eine selbstgewählte soziale Isolation treibt. Wenn der Druck von außen und die Versagensangst zu groß werden, schotten sich Hikikomori lieber ab und versuchen damit, dem vermeintlichen Versagen zu entgehen.

Leicht ist der Weg aus der sozialen Isolation nicht – mit Nachsicht, der Unterstützung von Angehörigen und Therapiemöglichkeiten können Betroffene aber den Weg zurück ins gesellschaftliche Leben finden. 
 

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