Yoga der Verbundenheit - Die Entfaltung des Herzens
Die drei Herzen des Menschen
Unser Herz ist viel mehr als ein Organ. Es ist der Ort, an dem wir in seinem rhythmischen Pulsieren unsere unmittelbare Teilhabe an der Kraft des Lebens fühlen können, und der Ort, an dem wir Mitgefühl, Nähe, und Intimität erleben, die erst wahrhaftige Begegnungen möglich machen. Und unser Herz ist der Ort, an dem wir die Sehnsucht erfahren, die es ermöglicht, unsere Ego-Identität zu transzendieren, und es ist auch der Ort des Selbst, unsere wahre spirituelle Mitte.
In einigen Yoga-Lehren wird nach drei Ebenen unterschieden: unser physisches Herz, unser energetisches Herz, das sich in unserem Herz-Chakra manifestiert, und unser spirituelles Herz, als die Ebene in uns, in der die Verwirklichung von Liebe und All-Einheit und damit unseres wahres Mensch-Seins möglich wird.
Das physische Herz
Unser Herz ist ein erstaunliches Organ. Das Herz ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tatsächliche Mittelpunkt unseres Lebens. Es ist das einzige Organ unseres Körpers, das niemals ruht oder pausiert, sondern unablässig schlägt bis zu unserem Tod.
Jede Zelle des Herzens ist einzigartig, keine gleicht der anderen, und gleichzeitig arbeiten sie doch in absolutem Einklang zusammen. In vollkommener Synchronizität erzeugen sie den elektrischen Impuls, der mittels einer Kontraktion aller Zellen des Herzens das Blut in den Körper treibt; und gemeinsam finden sie auch wieder zurück in den Zustand der Entspannung, in dem die Herzkammern mit Blut gefüllt werden können.
Diese Beobachtungen decken sich mit den Empfindungen der tantrischen Yogis und Yoginis, die vor gut 1000 Jahren zu der Einsicht kamen, dass alles, was je erschaffen wurde, ausschließlich aus Energie besteht, die in unterschiedlichen Frequenzen schwingt und sich dadurch als mehr oder weniger dichte Materie materialisiert.
Jede Zelle unseres Seins schwingt in der ihr eigenen Frequenz, und alle Zellen unseres Körpers schwingen – sofern wir gesund sind – in einem Einklang, der an das Zusammenspiel eines großen Symphonieorchesters erinnert. Die Gesamtheit dieses Schwingens bildet das, was im tantrischen Yoga Energiekörper oder Prana-Maya-Kosha (Prana = Lebensenergie; Maya = geformt aus; Kosha = Körper) genannt wird. Er ist auf das innigste vernetzt mit unserem Mentalkörper, der seinerseits durch die Bewegungen unserer Gedanken, Gefühle und aller anderen mentalen Aktivitäten in Schwingung versetzt wird.
Diese Beschreibung deckt sich gut mit unserer Lebenserfahrung, die uns immer wieder fühlen lässt, dass unser Energielevel und auch unsere Ausstrahlung ganz unmittelbar das abbilden, was wir gerade denken und fühlen und welche Strukturen unser Denken und Fühlen im Laufe des Lebens bzw. in der unmittelbaren Vergangenheit ausgeprägt haben.
Das energetische Herz: Herz-Chakra
Das Konzept des Herz-Chakras gründet auf dem Konzept des energetischen Herzens, Hrid genannt, so wie es in den Upanishaden und in den Veden entwickelt wurde. Es heißt dort, dass unzählige Nervenenden (Nadis) im energetischen Herzen, in der Mitte des Hrid, zusammentreffen.
Dort – in der Mitte des Herzens zwischen der Halsgrube und dem Nabel – wird im Yoga unsere Mitte verortet. Es heißt, dass dort ein Vakuum, ein Freiraum sei, wie in der Mitte eines Spinnennetzes. Dieser innere Raum wird dem feinstofflichsten der Elemente zugeordnet, dem Äther oder Akasha. Wenn es dort eng ist, entsteht Duhkha (Leid), ist er weit und offen, entsteht Sukha (Leichtigkeit).
Unser Herz-Chakra ist ein Erfahrungs- und Lernfeld, für dessen Reinigung und Entfaltung die Spanne eines Lebens oft nicht ausreichend erscheint, denn es umfasst all die großen Themen, die unser Menschsein im eigentlichen Sinne ausmachen: Offenheit, Vertrauen, Herzlichkeit, Warmherzigkeit, Güte, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, selbstlose Liebe, Hingabe an sich und Hingabe an das Absolute (Ishvara Pranidhana als Fähigkeit und Bhakti als Weg der Verwirklichung).
Alle diese Qualitäten sind uns ursprünglich mitgegeben, denn sie sind die Grundpfeiler unserer emotionalen und sozialen Intelligenz, ohne die wir nicht friedlich miteinander leben und voneinander lernen könnten. Jede dieser Herzensqualitäten trägt in sich das Potenzial, die Kräfte des Egos wie Gier, Neid, Misstrauen, Lieblosigkeit, Hartherzigkeit zu neutralisieren, die uns in emotionaler und sozialer Hinsicht mehr oder weniger intensiv einschränken. Wenn wir nicht lernen, diese zu zähmen und zu regulieren, geben sie dem Ego immer wieder Gelegenheit sich aufzublähen.
Das Herz-Chakra registriert alle Verbindungen zwischen Psyche und Körper. Wenn sich das Herz-Chakra öffnet, fließt die Energie frei nach oben. Und genau in dieser Erfahrung eröffnet sich uns die Ebene unseres spirituellen Herzens.
Das spirituelle Herz: Der Sitz des Selbst
Unser spirituelles Herz wird verkörpert durch unser physisches Herz und entfaltet seine Wirkkraft durch die energetischen Schwingungen unseres Herz-Chakras.
In welchem Maße es unser eigentlicher und wesentlichster Bezugspunkt ist, wird deutlich, wenn wir auf uns selbst zeigen. Wenn wir jemanden fragen: „Meinst du mich?“, dann weisen wir niemals auf die Stirn oder auf den Bauch, sondern vollkommen selbstverständlich und natürlich sofort auf unser Herz. Hier erfahren wir unser Wesen und unser lebendiges, bewusstes Sein.
Wenn wir uns mit unserem spirituellen Herz verbinden, dann öffnen wir uns dem in uns, was wir in unserer christlichen Kultur als eine reine Seele verstehen. Es ist das, was die Yogis das Selbst nennen. Im Yoga umfasst das Konzept des Selbst (Atman oder Purusha) nicht nur unseren Wesenskern, sondern auch unsere Teilhabe an der allumfassenden Bewusstseinsenergie, am Absoluten, der Quelle allen Seins, dem All-Einen, dem Göttlichen, Brahman. Atman=Brahman / Brahman=Atman.
Der Ort, an dem wir unser Selbst (Atman) in seiner ganzen Dimension – das heißt in der Dimension des Absoluten (Brahman) – zu erfahren wagen, ist unser spirituelles Herz. In der Erfahrung des Einsseins allen Seins wächst in tiefes Vertrauen und tiefe Verbundenheit. Sie ermöglicht es uns, zu wahrhafter Vergebung für uns selbst und andere zu finden. Sie schenkt uns die Freude der vollkommenen Hingabe an einen anderen Menschen und an das Leben. Wenn wir in dem Einen ruhen und uns als ein Gefäß erfahren, mit dem es sich ausdrücken und durch das es hindurchscheinen möchte, dann öffnen wir uns der Liebe an sich.
Der Weg zum Herzen
Alle, die ich in den letzten Jahren traf, die sich mit der Entfaltung unserer Herzqualitäten beschäftigen, waren sich einig: Der Schlüssel zum Herzen liegt in unserer Sehnsucht! Er liegt in unserer Sehnsucht nach Verbundenheit, Gemeinschaft und einem Dasein, das uns sinnvoll erscheint.
Sehnsucht ist dabei weniger eine weitere Sucht, die uns unfrei macht und die wir deshalb mit Vorsicht betrachten sollten, sondern vielmehr ein Verlangen, das zum Antrieb für unsere unermüdliche Suche wird, das freizulegen, was schon immer in uns ruht: unser Einssein mit allem Lebendigen, unsere Vollkommenheit als das Wesen, als das wir in die Welt gesetzt worden sind, und das tiefe Wissen darum, warum wir gerade hier und jetzt in dieses Leben gestellt worden sind und was es da für uns zu tun gibt.
Wenn wir die Sehnsucht so betrachten, dann ist es auch sinnvoll, dass wir uns ihr stellen, sie annehmen und sie sogar nach Kräften zu kultivieren trachten.
©Mira Burgund