Wie Yoga mein Leben rettete und ich zu mir selbst fand

Die Rückkehr nach Costa Rica war, wie nach Hause zu kommen. Am Flughafen stieg ich in den Bus und fuhr direkt nach Dominical. Ich war ein wenig nervös, wusste nicht, was mich erwarten würde; schließlich war ich völlig allein unterwegs. Ein paar Freunde hatte ich zwar in der Stadt, doch im Gegensatz zu früher reiste ich ohne Begleitung. Ich checkte in einem Hostel ein und plante, mir so bald wie möglich eine eigene Unterkunft zu suchen.

 

Mich wieder in das Leben dort einzufügen...

war leichter, als ich erwartet hatte. Ich bekam einen Job als Kellnerin in einem italienischen Restaurant in der Stadt und arbeitete in zwei verschiedenen Bars hinter der Theke. Große Pläne hatte ich keine, ich wollte nur genug Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Ich wollte jeden Tag im Meer schwimmen und mich frei fühlen. In meiner Freizeit übte ich Yoga, entspannte in einer Hängematte beim örtlichen Tauchladen und hing mit den Touristen herum. Die Managerin des Ladens hieß Laura, ihr Mann war Tauchlehrer.

Während meines vorherigen Aufenthaltes hatte ich mit Frauen nur oberflächlichen Kontakt gehabt. Mit ihnen Freundschaften aufzubauen fiel mir nicht leicht; mit Männern fühlte ich mich immer wohler. Meine Freundschaft zu Laura entwickelte sich eher durch Zufall. Sie erzählte mir, dass sie mich zuerst nicht gemocht hatte. Ich war »zu laut, zu blond und zu groß«, sagte sie. Wahrscheinlich habe ich sie mürbegemacht, denn schließlich wurden wir doch Freundinnen.

Laura übte Yoga in einem kleinen Studio in der Stadt, und ich begleitete sie irgendwann. Gleichzeitig machte ich mit dem weiter, was ich in Spanien angefangen hatte – ich verschlang spirituelle Bücher und Lehren und wollte unbedingt sowohl die Meditation als auch die Yoga-Praxis vertiefen. Ich fühlte mich stärker und ruhiger als je zuvor. Endlich lebte ich allein und traf Entscheidungen für mich, ohne dass mich etwas zurückhielt! Weil ich so im Reinen mit mir war, verbreitete ich überall um mich herum auch Frieden.

Die seltsamsten Dinge ereigneten sich: Ich dachte an etwas, und plötzlich passierte es. Ich saß am Strand, hatte Lust auf eine Kokosnuss, und auf einmal kam ein Freund vorbei und bot mir eine an. Wenn ich Geld brauchte, gab mir ein Gast im Restaurant extra viel Trinkgeld. Solche Sachen. Nach ein paar Monaten nahm ich meine neu entdeckte Fähigkeit als selbstverständlich hin. Irgendwann war ich so weit, dass ich, wenn ich Musik auf meinem iPod hörte und die mehr als tausend Songs darauf auf Shuffle stellte, wusste, welches Lied als nächstes kommen würde.

 

Jetzt weiß ich von dem Gesetz der Anziehung – dass die eigenen Gedanken Realität werden können –, aber damals erschien mir alles eher wie Magie.
Rachel Brathen

Nachdem ich meinem Empfinden nach...

schon viel zu lange im Restaurant gearbeitet hatte, war ich bereit für etwas mehr Abenteuer, und genau dann ergab sich auch eine Möglichkeit. Eines Tages unterhielt ich mich an einem Tisch mit den Gästen, und noch bevor sie bezahlten, hatte ich einen neuen Job. Die Firma, für die sie arbeiteten, war gerade im Begriff, Land zu kaufen und dort nachhaltige Hotels zu bauen. Ich wurde als persönliche Assistentin des Projektleiters eingestellt, einem gewissen John. Es handelte sich um eine neu geschaffene Stelle, und ich glaube, weder John noch ich wussten, was sie beinhalten würde.

Er sagte mir, weil er mich so unbedingt im Team haben wollte, hatte er die Position für mich eingerichtet. Ich erledigte administrative Arbeiten, kümmerte mich um seine E-Mails, aber auch persönlichere Angelegenheiten wie Reisebuchungen. Außerdem versorgte ich das Team jeden Tag mit gesundem vegetarischem Essen und frischen Smoothies.

Eines Morgens rollte ich in der Pause meine Matte auf der Terrasse des Hauses aus, in dem die Firma ihren Sitz hatte. Ich übte die Stellungen so, wie ich sie gelernt hatte, fühlte mich mittlerweile so wohl mit allen, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenken musste. Als ich zurück ins Haus ging, hielt John mich auf. »Kannst du uns das beibringen?«, fragte er. »Was denn?« »Yoga. Es wäre schön für das Team, wenn wir das morgens zusammen machen könnten.« Ich dachte darüber nach. Yoga unterrichten? Ich? »Klar«, antwortete ich. »Gerne.«

Am nächsten Tag zeigte ich John eine Reihe von Yoga-Übungen und erklärte alles, während ich die Stellungen vorführte. Ich musste nicht innehalten und überlegen, auch wenn ich es noch nie vorher unterrichtet hatte. Seltsamerweise ging mir alles ganz natürlich von der Hand. Am Ende der Stunde dachte ich plötzlich: Hatte ich gerade meine erste Yoga-Klasse unterrichtet?

 

Eines der wichtigsten Grundstücke...

mit denen die Firma zu tun hatte, gehörte einer Familie, die schon vor Jahren eine Kommune aufgebaut hatte. So etwas hatte ich noch nie gesehen – eine Gruppe von etwa dreißig Menschen, die freiwillig miteinander im Regenwald lebten. Sie teilten die Aufgaben untereinander auf – alle kümmerten sich um das Gelände, kochten und putzten. Der spirituelle Aspekt war sehr wichtig; alle meditierten, und viele praktizierten Yoga, und sie gingen offen und ehrlich miteinander um. Jeder hatte ein Mitspracherecht, wie das Grundstück genutzt werden sollte, weshalb wir viel Zeit dort verbrachten und viele heftige Diskussionen führten, meistens wegen der Finanzen der Kommune. Nach langen Verhandlungstagen schloss ich mich abends den Meditationskreisen an.

Eines Tages sagte mir John, dass die Kommune einen Kakaoschamanen zu Gast habe und es später noch eine Schokoladenzeremonie geben würde. Ich hatte schon von Schokoladenzeremonien als Mittel zur emotionalen Heilung gehört und war gespannt. Ein Kakaoschamane arbeitet mit speziellen Bohnenarten von heiligen Orten in Südamerika. Gemäß einem uralten Ritual zur Herstellung von Kakao werden die Bohnen erst geröstet und gemahlen, dann wird die heiße Schokolade mit braunem Zucker oder Agavensirup und Cayennepfeffer in einem großen Topf vermischt.

 

Kakao verstärkt den Blutfluss zum Herzen und befreit das Herzchakra. Emotional gesehen löst er aufgestaute Gefühle, und das Ritual kann sowohl eine herausfordernde als auch therapeutische Erfahrung sein.
Rachel Brathen

John und ich...

trafen am frühen Nachmittag auf der Farm ein und gesellten uns zu der Gruppe auf der Terrasse. Zwanzig oder mehr Menschen, einige waren mir unbekannt, saßen in einem Kreis um den großen Topf voll blubberndem Kakao. Ich hatte noch nie einen Schamanen getroffen und war gespannt, wie er wohl aussehen würde. Ich stellte mir einen indigenen Mann vor, der in Roben gekleidet und mit Perlen behangen war. Doch dann stellte sich heraus, dass er ein Amerikaner in den Sechzigern war, mit weißen Haaren und einem langen weißen Bart. Etwas unsicher setzte ich mich in den Kreis – worauf hatte ich mich hier eingelassen? Der Schamane ließ sich ausgerechnet neben mir nieder, und unsere Blicke trafen sich. Als ich in seine klaren, blauen Augen sah, durchzuckte mich ein elektrischer Schlag. Er schien in die Tiefen meiner Seele blicken zu können.

»Interessant«, sagte er. »Um dich kümmern wir uns als Letztes.« Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, aber mir liefen Schauder über den Rücken. Wir alle tranken den Kakao, und mein Mund wurde von dem bitteren, scharfen Geschmack ganz trocken. Es schmeckte überhaupt nicht wie der heiße Kakao, den ich früher im Skiurlaub getrunken hatte! Meine Freunde von der Farm sagten mir, es könne eine Weile dauern, bis der Kakao »seine Magie wirken« würde, aber schon nach wenigen Minuten stiegen mir die Tränen in die Augen. Wie war ich nur hier gelandet? Mitten im Dschungel, bei Menschen, die ich kaum kannte, denen ich aber irgendwie völlig vertraute? Der Kreis war von einem goldenen Licht umgeben und fühlte sich zutiefst heilig an.

 

Einer der Teilnehmer...

war ein netter Mann namens Jesse, der auf der Farm wohnte und seine Frau und die Kinder zur Zeremonie mitgebracht hatte. Jesse war Immobilienmakler in der Stadt und ein Freund von John. Sein Nachname war Angell (im Ernst!). Ich fühlte mich von seiner vierjährigen Tochter Grace merkwürdig angezogen. Sie saß auf einem Kissen und meditierte – mit  überkreuzten Beinen, die Augen geschlossen, die Finger formten Gyana Mudras. Grace versuchte nicht, wie die anderen im Moment zu leben. Sie tat es einfach. Ihr Anblick, wie sie so mühelos auf das Hier und Jetzt konzentriert war, weckte etwas tief in mir.

Wir alle versuchten nur zu dem zurückzufinden, was wir bereits waren! So werden wir geboren, voller Licht, voller Liebe. In Kindern sehen wir, wie mühelos wir das können. Doch später verirren wir uns. Ein Licht strahlte direkt von Grace in mein Herz, und auf einmal hatte ich jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Meine Augen waren geöffnet, doch ich atmete tief und gleichmäßig und war völlig von der Komplexität des Moments gefangen, der sich um mich herum offenbarte. Ich fühlte mich eins mit dem Kreis, eins mit der Erde und dem Himmel, eins mit allem, und es schien eine Ewigkeit anzudauern. Es war das intensivste spirituelle Erlebnis, das ich je gehabt hatte.

 

Es gab keine Gedanken, kein Ego, nur Licht.
Rachel Brathen

In der Zwischenzeit...

ging der Schamane von Teilnehmer zu Teilnehmer, setzte sich zu allen und führte sie tiefer. Nach vielen Stunden war nur noch ich übrig. Er drehte sich zu mir und sagte laut zu der ganzen Gruppe: »Wir werden jetzt gleich zusammen einen sehr heiligen Ort betreten.« Ich hörte seine Stimme deutlich, aber mir war, als wäre ich woanders. Als würde ich über dem Boden schweben. »Dir steht etwas bevor, das dein Leben verändern wird«, erklärte er mir. »Jeder hat einen Sinn im Leben, aber es ist sehr selten, dass ich jemanden treffe und sofort seine Bestimmung weiß. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich dir in die Augen gesehen habe. Und du sollst es jetzt auch erkennen und verstehen.«

Bei seinen Worten begann ich zu weinen, doch die Tränen waren anders als die, die ich in der Vergangenheit vergossen hatte. Tränenbäche rannen, nein, strömten aus meinen Augen, aber ich hatte nicht das Gefühl zu weinen. Es war eher, als ob ich gereinigt würde. Das sind nicht meine Tränen, dachte ich. Aber woher kamen sie dann? »Das sind die Tränen deiner Vorfahren«, sagte der Schamane, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Das Licht, das du in deiner Brust spürst, fühlen wir alle. Lass es weiter anwachsen. Atme weiter hinein. Wir werden uns jetzt zu deinen Vorfahren begeben, an einen dunklen Ort, und du musst das Licht mitnehmen.«

 

Ich gehorchte und schloss die Augen

»Hinter dir stehen sie alle«, sagte der Schamane. »Links von dir ist deine Mutter, rechts von dir dein Vater.« Hinter ihnen standen deren Eltern – meine Großeltern – und dahinter wiederum deren Eltern und so weiter. »Sie bilden ein unendliches Dreieck aus Generationen hinter dir, deine gesamte Vergangenheit und deine Abstammung. Wie du merkst, gibt es viel Schmerz in deiner Familie.«

Plötzlich überwältigten mich die Gefühle. Ich spürte immer noch das Licht, das aus meiner Brust strahlte, doch der Rest meines Körpers wurde schwer vor Traurigkeit und Angst. Ich sah Dinge, die wie Erinnerungen wirkten. Alles war so deutlich. Wie die Tränen, die ich weinte, nicht meine waren, waren auch die Erinnerungen, die vor meinen Augen aufblitzten, nicht meine. Ich sah meinen Vater, wie er als Baby von seinem Vater in einem Wutanfall durchs Zimmer geworfen wurde; wie er mit einem Gürtel geschlagen wurde; wie er allein in einem sterilen Krankenhausbett lag.

Meine Mutter als kleines Mädchen mit blauen Flecken an den Armen, wie sie allein unter der Bettdecke weinte, während ihre Schwestern mit meiner Großmutter in einem anderen Zimmer zu Abend aßen. Meine Großmutter, wie sie als Kind in einen kalten Erdkeller gesperrt wurde, in dem sie nicht aufstehen, sich aber auch nicht hinlegen konnte. Mein Großvater, der von seinem Vater verfolgt und mit der Faust verprügelt wurde. Die Bilder von Misshandlungen gingen so weit zurück, dass ich die Kinder darin nicht mehr erkannte, doch ich spürte überdeutlich ihre Angst und ihre Traurigkeit.

Ich wurde Zeuge, wie Trauma und Misshandlungen durch die Generationen weitergegeben wurden. Ich fühlte, wie diese Last mein ganzes Sein nach unten drückte, doch wenn ich in das Licht in meinem Herzen atmete, wie der Schamane es mir zeigte, konnte ich es ertragen. Ein Bild nach dem anderen zuckte vor meinen Augen an mir vorbei, und auch wenn ich nichts sagte, konnte der Schamane alles benennen. Er sah, was ich sah. Nach einer Weile fühlte ich mich seltsam distanziert und gleichzeitig eng mit den Bildern verbunden.

Mir war bewusst: Das alles lebt in mir. Ich beobachtete, wie der Schmerz weitervererbt wurde, und so schrecklich das war, so war es eben. Ich konnte es nicht ändern. Diese Vergangenheit hatte man mir mitgegeben, und das hatte einen Grund. Plötzlich hatte ich eine durchschlagende Erkenntnis: Keiner aus meiner Familie hatte bewusst grausam gehandelt. Alle verhielten sich nach den Mustern, die sie kannten, wiederholten nur, was lange vor ihrem eigenen Bewusstsein begonnen hatte; Generationen bevor sie überhaupt geboren waren. Das Trauma war auf sie übertragen worden, und sie hatten gar keine andere Wahl. Das war das Beste, wozu sie fähig waren.

 

Schließlich sah ich mich als Kind und den ganzen emotionalen Schaden, der mir zugefügt worden war.
Rachel Brathen

Ich sah flüchtig die Depression...

meiner Mutter, ihren Selbstmordversuch, wie sie mich alleinließ und ich mich selbst um mich kümmern musste. Die ganzen Trennungen und Scheidungen in unserer Familie. Ich sah, wie mein Vater uns verließ und eine neue Familie gründete. Wie er uns bedrohte, mich anschrie. Bei jedem Flashback spürte ich den Schmerz, den ich so viele Jahre in mir getragen hatte. Mein ganzes Leben lang war ich der Ansicht gewesen, dass meine Eltern vieles anders hätten machen »sollen« – als ob sie sich bewusst dafür entschieden hätten, so viel Schmerz zu verursachen. Nachdem ich gesehen und gefühlt hatte, was sie als Kinder erleiden mussten, verstand ich meine eigene Kindheit besser. Blitzartig wurde mir klar, dass meine Eltern mich auf die einzige Weise liebten, die sie kannten. Sie hatten ihr Bestes gegeben mit dem, was ihnen selbst an Erfahrung zur Verfügung stand. Was konnte ich noch mehr von ihnen verlangen?

 

Mein nächster Atemzug...

war so tief, dass ich dachte, das ganze Universum würde durch mich atmen. Als ich die Luft wieder ausstieß, ließ ich einen großen Teil der Wut los, die ich fast mein gesamtes Erwachsenenleben in mir getragen hatte. Der Schmerz war noch da, jetzt jedoch erträglich. Ich war noch nicht geheilt, aber ich war nicht mehr so traurig. Bei dieser Erkenntnis schluchzte ich so heftig, dass ich dachte, die ganze Welt würde durch mich weinen.

Ich hatte recht gehabt zuvor, als ich dachte, die Tränen wären nicht meine. Es waren die Tränen einer ganzen Abstammungslinie, all meiner Vorfahren zusammen. Ich weinte um meine Mutter, meinen Vater, die auch nur Kinder gewesen waren. Ich weinte um meine Großeltern und deren Eltern. Ich weinte um all die Kinder, die sich nicht sicher gefühlt hatten, um jeden Moment des Kummers, den sie durchlitten hatten. Ich weinte um die gesamte Menschheit, bis ich plötzlich keine Tränen mehr hatte.

Als ich die Augen wieder öffnete, wurde es bereits dunkel. Der ganze Tag war vergangen, und es waren nur noch der Schamane, mein Chef John und eine Frau da, die ich nicht kannte. Alle sahen mich an, während ihnen Tränen die Wangen hinunterliefen. Der Schamane sagte zu mir: »Deine Bestimmung ist es, die gesammelten Traumata deiner Vorfahren auf dich zu nehmen, sie auf deinen Schultern zu tragen und sie im Lauf deines Lebens in Licht zu verwandeln.« Während er sprach, spürte ich ein greifbares Licht aus meiner Brust strahlen. Wenn Licht ein Gefühl war, dann war es genau so.

»Mit dir endet der Schmerz. Es ist eine schwere Bürde, aber du wirst es schaffen. Deshalb bist du hier. Deine Tochter wird die erste in deiner Familie sein, die ihn nicht übernimmt.« Plötzlich bekam ich Gänsehaut am ganzen Körper. »Meine Tochter?«, fragte ich. »Ja«, antwortete er. »Deine Tochter. Der Geist hat auch für sie große Pläne.« Ich lächelte. Eines Tages. Eine Tochter. Er sah zu den anderen und fuhr fort: »Legt eure Hände auf Rachel.

Sie muss die Verbindung spüren.« Sie folgten seiner Anweisung, doch es war mir unangenehm. Meine eigenen Hände waren glühend heiß – da brauchte ich nicht noch den direkten Kontakt zu anderen Menschen. Ich musste die Wärme weitergeben. Ich drehte mich um und legte John und der Frau je eine Hand auf den Rücken. Flammen schienen aus meinen Handflächen zu schießen. John sagte später, dass er das Gefühl gehabt hatte, abzuheben.

 

Ich weiß nicht, wie lange wir vier auf dieser Holzterrasse saßen, aber ich musste mich ausruhen und schloss die Augen. Als ich aufwachte, war ich allein.
Rachel Brathen

Leiser Regen...

fiel auf das Zinndach, Nebel stieg vom Gras auf. Das Licht, das zuvor aus meinem Körper gestrahlt hatte, war immer noch da, und mein Herz schien zu groß für meine Brust zu sein. Alles war so unglaublich schön. Die Stille war geradezu überirdisch, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Doch nicht die Welt war still geworden. Sondern mein Geist. Ständig hatte eine Stimme in meinem Kopf gesagt: Du bist nicht gut genug … keiner liebt dich … deshalb verlassen dich alle … Diese Stimme, die ich nur in Momenten intensiver Meditation zum Schweigen hatte bringen können, war jetzt ruhig. Die Stille kam aus mir selbst. Ist das Erleuchtung?, fragte ich mich. Gleichzeitig wusste ich, dass es das nicht war, denn sonst hätte ich diese Frage gar nicht gestellt. Ich empfand keine Enttäuschung. Na gut, dann eben keine Erleuchtung. Aber verdammt nahe dran.

Ich stand auf; mein rosa-türkisfarbenes Kleid klebte an meiner verschwitzten Haut. Ich streckte die Arme über den Kopf und seufzte tief. Mein Geist war immer noch ruhig, als ich barfuß in den Dschungel ging. Ich fühlte mich wie wiedergeboren. Alles leuchtete, als wäre es mit glitzerndem Licht bestäubt. Nach einer Weile legte ich mich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im feuchten Gras. Ich atmete die Erde ein und fühlte mich eins mit ihr – dem Boden, den Bäumen, jedem Grashalm. Bald setzte eine tiefere Erkenntnis ein: Ich bin diese Erde. Diese Erde ist ich. Alles ist lebendig, wie ich es bin. Wir sind zusammen am Leben. All diese Klischees, die ich im Yoga-Unterricht oder in Meditationskreisen gehört oder in spirituellen Büchern gelesen hatte, waren wahr. Wir sind eins.

 

Als ich wieder zur Farm zurückkam...

war die Sonne untergegangen. Ich trat auf die Terrasse und fühlte immer noch das Vibrieren der tiefen Heilung, die hier stattgefunden hatte. Ich sehnte mich nach meiner Mutter und meinem Vater. Ich sehnte mich danach, ihnen zu sagen, wie sehr ich sie liebte. »Das war ganz schön wild!«, sagte jemand. Ich drehte mich um. Der Schamane. »Ja«, erwiderte ich. »Es war …« Er unterbrach mich. »Du musst nichts erklären. Schweig, lass alles auf dich wirken. Du hast heute hier etwas Lebensveränderndes getan. Heilung wirkt in zwei Richtungen. In die Vergangenheit und in die Zukunft. Du hast eine große Aufgabe im Leben. Verlier sie nicht aus den Augen.« Dann fragte er: »Hat man dich kürzlich zu einer Ayahuasca-Zeremonie eingeladen?«

 

Woher wusste er das? Eine Woche zuvor war ich zu einem Ayahuasca-Retreat eingeladen worden, doch nach einiger Überlegung hatte ich beschlossen, es abzulehnen. Ayahuasca ist eine
Schlingpflanze mit halluzinogenen Eigenschaften, die zu einem Tee gekocht und für intensive spirituelle Erfahrungen genutzt wird. Ich fühlte mich von der Vorstellung etwas überfordert. »Normalerweise rate ich davon ab«, sagte der Schamane. »Bei der Kakaozeremonie gehst du deinen eigenen Weg. Du wirst nur mit dem konfrontiert, wofür du bereit bist. Du hast das Steuer in der Hand. Doch Ayahuasca … bestimmt über dich, du hast keine Kontrolle. Es kann sehr Furcht einflößend sein, die Medizin zu nehmen. Aber ich habe das starke Gefühl, dass du gerufen wirst. Tu es, wenn du die Gelegenheit dazu hast.« 

Er legte mir seine Hand auf die Schulter und lächelte. »Vergiss nicht: Du musst vor nichts Angst haben.« Seine Augen funkelten. »Es gibt nur die Liebe.«

 

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