Umgang mit Wut: Interview mit Dr. Zarmina Penner
1. Persönlicher Wandel durch Wut-Management
Redaktion: Frau Dr. Penner, könnten Sie teilen, wie Ihr persönlicher Weg Sie zum Thema Wut-Management geführt hat? Gab es Schlüsselmomente, die Ihnen die Wichtigkeit dieses Themas verdeutlicht haben?
Dr. Zarmina Penner: Viele Jahre lang spürte ich meine Wut nicht, und wenn, dann fühlte ich mich nach auslösenden Episoden, wenn ich mit Menschen zu tun hatte, die mir gegenüber respektlos waren, undefinierbar »schlecht«. Aber ich hatte körperliche Symptome wie Kopfschmerzen und anhaltende Verspannungen.
Erst später, vor allem bei Menschen, die ihre Wut ohne Wenn und Aber und aus meiner Sicht grundlos an mir ausließen, begann ich, meine Wut zu spüren. Es fühlte sich gut an, sie zu spüren und auszudrücken, aber diese Phase hinterließ viele Scherben.
Ich erkannte, dass ich meine Wut besser verstehen und regulieren musste. Es gab viele Schlüsselmomente, in denen ich Dinge sagte, die ich nicht mehr zurücknehmen konnte. Viel später erkannte ich, dass diese Wutausbrüche Muster hatten und jede Episode eine Geschichte erzählte, die mir helfen sollte, emotional zu wachsen.
2. Das »STOP! 1-2-3 Modell« im Alltag
Redaktion: Könnten Sie erklären, wie Einzelpersonen das »STOP! -1-2-3-Modell« in ihrem täglichen Leben nutzen können, um emotionale Reaktionen besser zu verstehen und zu kontrollieren?
Dr. Zarmina Penner: Der erste Schritt ist, sich selbst bewusster zu beobachten und den Alltag täglich zu reflektieren. Ich nenne das »Emotionale Hygiene«. Das ist so wichtig wie Zähneputzen.
Das Modell hat zwei Teile:
- Analyse
- Lösungssuche und -umsetzung
1. Die Analyse
Wenn Sie merken, dass Sie anderen immer wieder die gleichen Geschichten über andere erzählen, die Ihnen das Leben schwer machen, sagen Sie sich: Stopp! Wenn sich diese Erfahrung das nächste Mal wiederholt, fordern Sie sich heraus, niemandem davon zu erzählen.
Stattdessen nehmen Sie sich vor, die Episode wie ein Beobachter zu betrachten. Schließen Sie in einem ruhigen Moment die Augen und erleben Sie die Episode noch einmal von Anfang bis Ende in Ihrem Kopf, als wäre es ein Kurzfilm.
- Wie hat es angefangen?
- Was geschah?
- Was haben Sie gefühlt?
- Wie ging es weiter?
- Wie haben Sie reagiert?
- Was geschah danach?
Wenn Sie dabei emotional werden, lassen Sie Ihre Gefühle zu, auch wenn es weh tut. Tränen dürfen kommen. Wut darf sein, Trauer, Angst usw. Sie werden merken, dass es Ihnen danach besser geht und die Episode nicht mehr so brisant erscheint. Lassen Sie sich Zeit und wiederholen Sie, wenn nötig.
Dann nehmen Sie sich ein Stück Papier und beschreiben Sie die Episode aus drei Perspektiven:
- Was haben Sie dazu beigetragen? Was war Ihr Anteil? Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist wichtig. Nehmen Sie nicht die Opferposition ein. Analysieren Sie sich aus der Position des Beobachters.
- Wie hat das Umfeld dazu beigetragen? War es ein Werteproblem? Ein Prozessproblem? Was hat im Umfeld gefehlt, dass es zu dieser Episode kommen konnte? Analysieren Sie nüchtern und unvoreingenommen.
- Erst dann schauen Sie auf Ihr Gegenüber. Versetzen Sie sich in seine Lage? Was könnte zu seinem Verhalten beigetragen haben? Mitgefühl und Einfühlungsvermögen lassen Sie mehr wahrnehmen.
Das sind die ersten Schritte: STOP! 1-2-3. Das ist eine ausreichende Analyse der Situation.
2. Lösungssuche und -umsetzung
Danach kann eine Lösung für die Situation erarbeitet werden.
Die folgenden fünf Ziele können sein:
- Aus der Situation lernen und emotional wachsen.
- Zukünftige Episoden vermeiden.
- Den eigentlichen Konflikt hinter der Episode erkennen und die Ursache beseitigen.
- Die Episode vorübergehen lassen und die Beziehung verbessern.
- Die Situation aussitzen, bis sich die Dinge von selbst ändern.
Es gibt drei mögliche Strategien:
- Das Gespräch suchen und einen Kompromiss diskutieren und aushandeln.
- Ein kurzes Gespräch vereinbaren, in dem Sie ohne Diskussion Ihre Grenzen und Bedingungen noch einmal deutlich machen.
- Nichts tun.
Wenn Sie Ihre Ziele definiert haben, wählen Sie eine Strategie und erstellen Sie einen Plan, den Sie sorgfältig umsetzen. Überprüfen Sie Ihren Plan nach jedem Schritt und passen Sie ihn an.
Wenn Sie sorgfältig vorgehen, können Sie viel lernen. Konflikte und Trigger-Ereignisse haben den Vorteil, dass sie uns zeigen, wie weit wir in unserer persönlichen Entwicklung gekommen sind und was noch zu tun ist. Das ist Selbstcoaching im Alltag und eine sehr wertvolle Erfahrung fürs Leben.
3. Wut bei Frauen
Redaktion: Warum ist Ihrer Meinung nach die Gesellschaft noch immer so zurückhaltend, wenn es um den Ausdruck von Wut bei Frauen geht? Und wie können Frauen lernen, ihre Wut auf eine Weise auszudrücken, die heilsam und kraftvoll ist?
Dr. Zarmina Penner: Ich sehe Wut nicht geschlechtsspezifisch. Menschen sind Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht. Der Prozess der Analyse und Lösung ist der gleiche wie oben beschrieben. Wie wir uns verhalten, bestimmen wir, als Frau oder als Mann. Was andere darüber denken und sagen, ist irrelevant und geht uns nichts an. Wir können nicht verlangen, dass andere oder die Gesellschaft sich uns gegenüber anders verhalten. Es ist, wie es ist. Diese Akzeptanz ist sehr befreiend.
Es steht niemandem, Frau oder Mann, seine Wut ungefiltert an der Umwelt auszulassen. Das wichtigere Ziel ist immer, aus dem Alltag zu lernen, sich selbst immer mehr zu erkennen und zu steuern, dass wir wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden und bleiben, wertebasiert, nützlich und positiv.
Alles andere, z.B. wie wir uns emotional fühlen, ob wir Wut spüren und unser Verhalten entwickeln, geht niemanden etwas an. Durch unser Verhalten können wir Dinge in unserer eigenen Welt beeinflussen. Wie wir uns verhalten, hat einen indirekt großen Einfluss auf unsere unmittelbare Umgebung. Mehr ist nicht nötig. Wir machen es mit uns aus. Wir haben es selbst in der Hand.
4. Wut als Chance zur persönlichen Entwicklung
Redaktion: Sie sprechen davon, dass Wut ein Potential zur persönlichen Weiterentwicklung birgt. Können Sie ein Beispiel geben, wie man durch bewussten Umgang mit Wut persönlich wachsen kann?
Dr. Zarmina Penner: Wenn ich zum Beispiel merke, dass ich im Alltag nicht den Respekt bekomme, den ich mir wünsche, kann ich mich fragen:
1. Verantwortung für meine Grenzen
- Wie habe ich dazu beigetragen, dass andere sich erlauben, mir gegenüber respektlos zu sein?
- Beziehe ich ausreichend Stellung, wenn sich solche Vorfälle wiederholen?
- Wo sind meine Grenzen und habe ich sie deutlich gemacht?
2. Die Spiegelung des Umfelds
- Befinde ich mich in einem Umfeld, in dem Respekt großgeschrieben wird?
- Welche Werte haben die Menschen, die mein Umfeld beeinflussen?
- Fühle ich mich in diesem Umfeld wohl?
3. Analyse der Respektlosigkeit
- Wer verhält sich mir gegenüber respektlos?
- Wann und warum?
- Was ist die Motivation?
Nach der Analyse kann ich eine Lösung definieren und umsetzen. Ziel ist es, durch eigene Entscheidungen und eigenes verändertes Verhalten die Situation zu beeinflussen. Es geht nicht darum, andere aufzufordern, sich anders zu verhalten. Das funktioniert nicht.
Ich spreche von Respekt, weil Wut oft entsteht, wenn Grenzen nicht respektiert werden oder wenn man nicht wertgeschätzt wird. Respekt und Wertschätzung hängen eng zusammen.
5. Tipps für den Umgang mit plötzlicher Wut
Redaktion: Was sind erste Schritte, die man unternehmen kann, wenn man spürt, dass Wut aufkommt? Haben Sie praktische Tipps, um die Intensität der Emotion in solchen Momenten zu reduzieren?
Dr. Zarmina Penner: Wenn der Wutanfall kommt, haben wir etwa 30 Sekunden Zeit, um zu entscheiden, wie wir reagieren wollen.
- Im Idealfall kennen wir die Situation aus der regelmäßigen Analyse des Alltags und haben uns eine Reaktion zurechtgelegt.
- Zum Beispiel können Sie sagen: »Das überrascht mich jetzt, was meinst du?« Dann gewinnt man etwas Zeit. Laut werden oder schimpfen ist nie eine gute Lösung.
- Gehen Sie in den Beobachtermodus, in dem Wissen, dass das, was Ihnen vorgeworfen wird, mehr mit der anderen Person als mit Ihnen zu tun hat.
- Hören Sie gut zu, denn Sie wollen die Sache hinterher in Ruhe analysieren, um zu verstehen, was Sie daraus für sich, über das Umfeld und den anderen lernen können.
- Lassen Sie sich nicht in die Dramen der anderen hineinziehen. Diese gehen uns nichts an.
Mit dieser Einstellung wird der Alltag zu einem spannenden und interessanten Abenteuer.
6. Wut in zwischenmenschlichen Beziehungen
Redaktion: Sehr oft entsteht Wut in der Interaktion mit anderen. Welche Techniken schlagen Sie vor, um Konflikte zu deeskalieren und konstruktiv mit Wut in Beziehungen umzugehen?
Dr. Zarmina Penner: Ruhe bewahren, nicht impulsiv reagieren, Abstand gewinnen und später das Modell anwenden. In der Emotionalität kann nichts geklärt werden, also keine Diskussion führen. Wir brauchen Informationen, daher ist Zuhören die beste Strategie.
Wenn es sich um eine gefährliche Situation handelt, in der die andere Person betrunken ist oder sich nicht mehr unter Kontrolle hat, sollte man sich vorsichtig aus der Situation zurückziehen.
Manche Menschen regulieren ihre Gefühle, indem sie andere ärgern. Wenn Sie emotionale Hygiene nach dem obigen Modell praktizieren, werden Sie dieses Muster mit anderen frühzeitig erkennen und Zeit haben, in Ruhe zu entscheiden, welche Lösung angemessen ist. Weggehen ist eine Form des Nichtstuns.
In einer Beziehung ist es gut, wenn beide Partner:innen ihre eigene Entwicklung und die Entwicklung der Beziehung in den Vordergrund stellen und sich nach solchen Episoden Zeit nehmen, miteinander zu sprechen. Nicht unterbrechen, sondern zuhören und sagen, was man denkt. Die fünf Ziele entsprechen denen des Modells, die drei Strategien ebenfalls. Respekt ist wie immer eine wichtige Grundlage.
Wenn Sprechen und Zuhören nicht funktionieren, ist es schwierig, eine gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Dies kann nicht von einer Person allein geleistet werden.
7. Die Rolle von Wut in der Selbstfürsorge
Redaktion: Kann das Verständnis und die Akzeptanz eigener Wut Emotionen zu einer tieferen Selbstfürsorge und einem gesünderen Selbstbild beitragen?
Dr. Zarmina Penner: Ja, auf jeden Fall. Nicht nur Wut, sondern alle unsere Gefühle wie Trauer, Angst, Schuld, Scham usw. spielen eine wichtige Rolle im Leben. Sie sind Signale, die uns sagen, was noch nicht in Ordnung ist und worüber wir nachdenken müssen, um die Bedeutung zu verstehen. Weil wir noch nicht gelernt haben, mit Gefühlen umzugehen, haben wir oft Angst davor oder sagen uns, dass wir nicht gut genug sind, wenn wir etwas fühlen. Das sind falsche Gedanken, die wir loswerden müssen.
Emotionale Hygiene ist ein wichtiger Teil der Selbstfürsorge. Durch sie lernen wir unsere innere Welt kennen und schätzen. Jedes Gefühl hat dort seinen Platz, wie die Tasten auf einem Klavier.
8. Umgang mit chronischer Wut
Redaktion: Was würden Sie Personen empfehlen, die feststellen, dass Wut zu einem chronischen Zustand in ihrem Leben geworden ist? Wie kann man beginnen, diesen Zyklus zu durchbrechen?
Dr. Zarmina Penner: Hier wäre es sinnvoll, sich Hilfe zu holen. Jemanden, der uns zur Seite steht und uns durch den Prozess führt.
- Zuerst würde ich die Gedanken nachvollziehen bzw. sortieren, die zur Wut führen.
- Dann würde ich am Körper ansetzen und Körpertherapie empfehlen, denn chronische Gedanken und Emotionen setzen sich im Körper fest.
- Danach oder parallel dazu ist es gut, etwas für die Seele zu tun. Das ist bei jedem anders. Natur, Musik und Meditation sind gute Möglichkeiten. Letztlich ist alles gut für die Seele, was zu einem Gefühl von innerem Frieden, Dankbarkeit und Freude beiträgt.
9. Wut und gesellschaftliche Normen
Redaktion: Wie können wir Ihrer Meinung nach gesellschaftliche Normen und Strukturen verändern, um einen gesünderen Umgang mit Wut zu fördern, besonders bei Frauen?
Dr. Zarmina Penner: Sicherlich kann man generell etwas tun, z.B. Konfliktmanagement und Trigger-Analyse schon in der Schule zum Pflichtfach machen, auch für angehende und praktizierende Lehrer. Eine Art »Elternuniversität« wäre eine Option, denn viele Eltern haben selbst nicht gelernt, mit Ärger oder Emotionen umzugehen.
Ein einfaches und praktisches Modell, wie das »STOP! -1-2-3-Modell«, das man anwenden kann und damit schnelle Erfolge erzielt, wäre ratsam. Aus diesem Grund habe ich das Buch »Wut-Management« geschrieben. Konfliktmanagement und der gezielte Umgang mit Wut und andere Emotionen sind immer noch Fähigkeiten, die nur wenige beherrschen.
Frauen brauchen, wie gesagt, keine besondere Herangehensweise. Wir Frauen müssen höchstens lernen, uns mehr Zeit für uns selbst zu nehmen als für andere. Uns selbst so zu lieben, wie wir andere lieben. Wir müssen lernen, uns besser vor den Gefahren zu schützen, die das Frausein mit sich bringt, wie z. B. Gewalt in der Familie und in Beziehungen. Hier ist es wichtig, die Muster zu kennen, die zu Gewalt führen.
Es ist wichtig zu lernen, bewusster durch die Welt zu gehen, Beobachtungen und das Bauchgefühl ernster zu nehmen, Zwischentöne zu erkennen und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen entscheidungsfreudiger werden und unser Leben selbst in die Hand nehmen.
Alles andere bleibt gleich.
10. Zukunftsvision von emotionaler Gesundheit
Redaktion: Wie sehen Sie die Zukunft im Umgang mit Wut und emotionaler Gesundheit? Gibt es Trends oder Entwicklungen, die Ihnen Hoffnung machen oder besonders interessant erscheinen?
Dr. Zarmina Penner: Ja, ich sehe, dass wir uns mehr mit dem Thema beschäftigen. Ein Beispiel war der Jenke-Report, der Anfang Juni auf ProSieben ausgestrahlt wurde. Ich hatte das Vergnügen, beim Jenke.Live-Talk an der Podiumsdiskussion teilzunehmen.
Die scheinbar zunehmende Gewalt gegen Frauen im privaten Umfeld rüttelt immer wieder auf. Mehr Frauen kommen in Führungspositionen, können Strukturen mitgestalten und Entscheidungen beeinflussen, sodass gleichberechtigtere Verhältnisse für alle entstehen. In Unternehmen, in denen das Bewusstsein geschärft ist, werden Menschen mit fragwürdigen Wertvorstellungen weniger befördert.
Das sind gute Signale, und es wird noch besser werden. Wir können heute Themen ansprechen, die vor einigen Jahren noch tabu waren. Die »Me Too«-Bewegung hat viel dazu beigetragen.
Dennoch wird es immer emotional unreife oder mental beschädigte Menschen geben, die anderen das Leben schwer machen, und so wird auch in einer utopischen Zukunft alles, was wir hier diskutiert haben, seine Gültigkeit behalten. Wachsamkeit und methodisches Vorgehen sind also immer angebracht.