Warum wir Farben sehen: die 7 biologischen Funktionen

Farbe ist kein eindeutiger Begriff: Manche erklären Farbe als Wellenlänge, manche als Sinnesempfindung, wieder andere als Pigment oder Naturphänomen. Für manche ist Farbe auch Ausdrucksmittel oder Kulturprodukt. Dass Farbe in unserer Welt eine wichtige Rolle spielt, ist eindeutig – selbst wenn wir das gar nicht mehr wahrnehmen. Zu selbstverständlich sind die Ampelphasen, zu gelernt ist Rot als die Farbe von Rabatten, aber auch Warnungen. 

Tatsächlich nimmt das Wahrnehmen und Sehen von Farbe den größten Teil der Gehirnkapazität ein – es muss also auch einen biologischen Zweck des Farbensehens geben. Ein Blick ins Tierreich verrät, warum wir Menschen Farbe sehen: Sie erfüllt gleich mehrere Funktionen, die in der Evolution das Überleben gewisser Spezies gesichert hat. Diese biologischen Funktionen der Farbe haben auch Menschen im Verlauf der Evolution angeeignet.
 

Das sind die 7 biologischen Funktionen der Farbe


1. Orientierung

Farbe ist das größte und leistungsfähige Orientierungssystem der Natur. Und ist zudem ein Prädikat für die Biodiversität, die in der Natur herrscht. Nicht umsonst gibt es im Regenwald ebenso wie im Korallenriff die größte Farb- und somit auch Artenvielfalt. Bei so vielen Bewohnern ist Orientierung das A und O. Und Farbe erleichtert genau diese. Es ist vergleichbar mit einem U-Bahn-Fahrplan, in dem die einzelnen Linien unterschiedlich farbig hervorgehoben sind. Auch in einer überfüllten Bahnhofshalle hilft es, nach einer gelben Regenjacke oder einer blauen Anzeigetafel Ausschau zu halten. 

Die Orientierung im Korallenriff funktioniert ähnlich: Die Natur schuf Fische mit besonders ausdrucksstarken Farbmustern, damit sich die einzelnen Arten untereinander finden können. Auch die Partnersuche und somit die Arterhaltung läuft über die Muster und Farbzeichnungen der einzelnen Fische. In komplexen Lebenswelten sorgen Farben als Ausdruck also effizient für Orientierung – sowohl auf Partner- als auch auf Futtersuche. 
 

2. Gesundheit

Auch die biologische Funktion der Gesundheit zielt natürlich auf lange Sicht auf den Arterhalt ab. So lernt Mensch und Tier, dass gewisse Farben Hinweise auf die Genießbarkeit von Nahrungsmitteln hinweisen. Diese Kodierung ist sogar biologisch verankert. Der Stoffwechsel von Fleischfressern reagiert etwa unmittelbar auf die zartrosa Färbung von Geflügelfleisch bzw. die tiefrote Farbe von Rindfleisch: Die Produktion von Magensaft und Speichelfluss wird angeregt und der Appetit steigt. Färbt sich das Fleisch grau – und zeigt somit Verderblichkeit an – sinkt automatisch der Appetit. Farben sind der natürliche Ratgeber für eine gesunde Ernährung. Und dominant: Gefällt uns die Farbe nicht, vertrauen wir auch nicht mehr auf Geruch oder Konsistenz. 
 

Farben sind nicht nur schön, sondern erfüllen als Produkt der Evolution lebenswichtige Funktionen für Natur und Mensch.
Redaktion

3. Warnung

Auch als Warnung funktionieren Farben. Und das nicht erst seit roten Straßenverkehrsschildern. Im Tierreich hat sich Farbe schon lange als Provokationsmittel etabliert. Menschen und Tiere reagieren reflexhaft auf Warnfarben und die darauf folgenden Reaktionen sind blitzschnell, intuitiv und hochemotional. Deswegen reagieren wir auch auf das aggressiv wirkende Gelb-Schwarz der Wespe – reflexartig schrecken die meisten Menschen vor Wespen zurück, die schmerzhafte Erinnerung an einen Wespenstich, liegt er auch noch so lange zurück, löst im Gehirn eine Warnung aus. Gekoppelt ist diese Warnung aber nicht an die Wespe an sich, sondern an ihre Farben. 

Abschreckende Farben und Farbkombinationen sorgen nicht nur für maximale Aufmerksamkeit, sondern binnen Sekunden auch für unwillkürliche Abwehr-, Flucht und Vermeidungsreaktionen. Im Tierreich dienen Warnfarben natürlich vor allem zur Verschreckung von potenziellen Fressfeinden. Warnfarben wirken daher auch bei harmlosen Tieren wie Schmetterlingen: Die großen Punkte auf den Flügeln vieler Arten sollen aufgerissene Augen imitieren und so Fressfeinde abschrecken.
 

4. Tarnung

Genauso funktioniert Farbe natürlich auch als Tarnung: Wer zu langsam, alt oder schwach ist, nutzt Farbe als Mittel, sich zu verstecken. Am besten funktioniert die Tarnfarbe, wenn sie Tag und Nacht vor Jägern schützt – oder wenn Tiere ihre Farbe der Umgebung flexibel anpassen können, wie etwa Chamäleons oder Kraken. Auch die Abwesenheit von Farbe hilft beim Tarnen, wie etwa bei Quallen oder Eisbären. 

Aber natürlich hilft die Tarnung nicht nur dem Gejagten, sondern auch dem Jäger: Gemusterte Großkatzen sind zwischen Gräsern, Buschwerk und Unterholz besonders schwierig zu erkennen. Die unregelmäßigen Streifen und Flecken sorgen dafür, dass der Angreifer in den Augen des Opfers optisch in viele einzelne Teile zerfällt. Zebras verstecken sich mit ihrem auffälligen Muster übrigens nicht vor Raubkatzen, sondern vor Insekten. Denn gefährliche Krankheitsüberträger können die Streifenmuster nicht ausreichend auflösen, was die Landung nachweisbar erschwert. Was Tarnfarben genau sind, liegt also buchstäblich im Auge des Betrachters. 
 

5. Werbung

Im Tierreich funktionieren Farben nicht nur als Schutz oder Orientierungspunkte, sondern gelten auch als Visitenkarte des genetischen Codes: Je bunter ein Artgenosse, desto wertvoller sind seine Gene. Und umso wahrscheinlicher ist es, dass jener Artgenosse auch von den entsprechenden Weibchen zur Paarung auserwählt wird. 

Bei Pfauen etwa kann man anhand der Anzahl und Fläche der Augen auf den Fächern der Männchen Prognosen zur Überlebenschance des Nachwuchses abgeben. Pfauenweibchen reagieren intuitiv auf die Farbenpracht und räumen den Bewerbern höhere Chancen ein. In der Evolutionsbiologie nennt man das die „Gute-Gene-Hypothese“.
 

6. Status

Auffällige Farben werden in der Biologie mit Dominanz gleichgesetzt – und auch hier geht es wieder um den Arterhalt. Nach der „Handicap-Hypothese“ haben die Männchen mit der kräftigsten Farbtracht die besten Chancen bei Weibchen, allein deshalb, weil sie noch am Leben sind. Denn satte Farbmerkmale provozieren nicht nur die Konkurrenz zu Machtkämpfen, sondern erregen auch bei Fressfeinden Aufmerksamkeit. Wer seine Farbpracht also so offen zur Schau stellt, muss sich dieses Statussymbol leisten können.

Auch die Abwesenheit von Farbe verrät im Umkehrschluss einiges über den Status. Das zeigt sich etwa im sozialen Gefüge von Hühnern: Das Farbenkleid von Junghühnern ähnelt den graubraunen Tarnfedern der Hennen, die Farben der alten und kranken Tiere wirken verblasst. Und die dominanten Männchen sind bunter – aber auch größer, schwerer und kräftiger. Sie stehen ganz oben in der sozialen Hierarchie. 
 

7. Verständigung

Die siebte und letzte biologische Funktion der Farbe macht klar: Sprache ist keine Erfindung der Menschen, sondern eine Grundbedingung der Evolution. Der Austausch von Farbcodes funktioniert in der Tier- und Pflanzenwelt bereits als Sprache. Das bestätigt auch der Fakt, dass der Organismus einen enormen Aufwand in die Produktion und Verteilung von körpereigenen Farbstoffen sowie die neuronalen Kapazitäten für das Farbensehen investieren muss. Alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft kennen die entsprechenden Farbcodes und gebrauchen sie, um sich untereinander zu verständigen. Etwa das Chamäleon, das seinen Farbwechsel nicht nur zur Tarnung, sondern vor allem als Sprache gebraucht: Ist es emotional erregt, nimmt die Farbigkeit des Chamäleons sichtbar zu, während es sich seiner Umgebung anpasst, sobald es seine Ruhe haben möchte. 
 

Auch Menschen wissen mit Farbe zu kommunizieren. Wer eher in Ruhe gelassen werden möchte, der kleidet sich womöglich schlicht und unauffällig. Den gegenteiligen Effekt erzeugt knallige, farbige Kleidung. Auch bei Konsumgütern, in der Politik oder bei Weltanschauungen wird Gebrauch von der Farbkodierung gemacht, die meist ohne Erläuterung verstanden wird – so steht Orange im Buddhismus zum Beispiel für die höchste Stufe der menschlichen Erleuchtung.

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