Die Birke – Baum des lichtvollen Anfangs

Reinigen heißt Erstarrtes lösen

Im Frühling, wenn die Birke anfängt zu grünen – mit diesem wunderbaren hellen Grün und diesem weißen Stamm  –, ist das ein Zeichen, dass die Natur aufgeht und dass die Zeit der Dunkelheit aufhört. Die Winterhärte, das Erstarrte löst sich auf und kommt ins Fließen. Das geschieht in der Natur, und es geschieht auch in uns, wenn wir die Birke betrachten. Wenn wir uns der Birke öffnen. Denn was im Makrokosmos in der Natur geschieht, geschieht auch in uns selbst. 

Die Birke spielte schon in der alten Steinzeit eine wichtige Rolle. Die Menschen nannten sie »die hell Glänzende«, die Leuchtende. Das Wort »Birke« im Ur-Indoeuropäischen *bhereg* heißt »umhüllter Glanz« oder »umhüllender Glanz«. Entsprechend sind auch die Namen dieser Frühlingsgöttin, der ersten Göttin, der keltischen Göttin des Neuanfangs, Birgit oder Brigit. Im Sanskrit heißt die Birke bhurja. Es ist der lichtgefüllte Baum, der reinigende Baum. 

 

Das Erstarrte löst sich auf und kommt ins Fließen.
Wolf-Dieter Storl

Der Birkensaft ist ein Reiniger. Er wirkt gallefördernd und harntreibend. Er enthält Saponine und gilt als steinlösend bei Nieren- und Gallensteinen und hat vielerlei gesundheitsförderliche Wirkung. Das erkannten schon die alten Steinzeitvölker. Von Kanada bis zum Atlantik und bis über Sibirien trank man den Birkensaft. 

Birkenblätter und Birkenknospen kamen bei Hautkrankheiten in Bädern zur Anwendung. Diese wirken desinfizierend, auch als Umschläge. Birkenöl und Birkenteer wurden in der Volksmedizin in Salben bei Ekzemen verwendet.

 

Inspirieren heißt in Fluss bringen

Die Birke ist reinigend, und in dem Sinn gehört sie der jungfräulichen weißen Göttin. Diese symbolisiert Reinheit und Neuanfang. Schon die Rinde der Birke ist von einem Weiß, das kein anderer Baum hat. Da sind keine Rückstände drin, es ist das vollkommen Reine und Reinigende. Bei den Kelten hieß es, dass die Göttin Brigit oder Birgit über das Land lief: Sie ist die weiße, jungfräuliche Göttin. Wenn sie über das Land läuft, dann löst sie alles Verhärtete auf. Dann schmelzen und tauen die Eiskristalle, der Schnee schmilzt, die Bäche fließen, der Saft fließt in den Bäumen, und die Samen keimen unter der Erde. Es ist diese lichtbringende, alles ins Fließen bringende Göttin, die bei den Indoeuropäern, also von Europa bis nach Indien, gefeiert wurde. 

Die Birke in ihrer Zartheit und in ihrem Fluss erinnert mich an das Dao, wo Laotse sagt: »Das Sanfte, das Fließende, das Wasser ist stärker als das Verhärtete, das Versteinerte.« Und es ist wirklich so: Die Birke ist eine Erlösung des verhärteten, winterlichen Zustandes. Die Birke sprengt das Erstarrte. Und sie kommt daher als eine jungfräuliche Göttin, die Winterhärte und Kälte besiegt. Die Birkengöttin ist diejenige, die die Dinge wieder in Fluss bringt. 

 

Die Birke steht für den frischen Beginn.
Wolf-Dieter Storl

Altes lassen und neu anfangen

Die Birke ist ein Frühlingsbaum, der immer einen Neubeginn, einen Neuanfang, symbolisiert. Und das durch die Geschichte hindurch: Die Birke steht für den frischen Beginn. Wenn die Skandinavier oder die Balten etwas unternehmen, dann gehen sie in die Sauna oder in die Schwitzhütte. Auch in Sibirien macht man das. Da wird der Körper mit Birkenruten geschlagen, damit das Blut wallt und man die Kraft bekommt, einen Neuanfang zu machen. Birken oder Birkenzweige werden auch an den Giebel eines Neubaus gesteckt.

Im alten Rom trug ein neuer Konsul oder Magistrat Fasces. Fasces sind Bündel aus Birken- oder Ulmenruten, zusammengeschnürt mit roten Bändern, und in der Mitte befand sich ein Beil. Die Fasces waren das Zeichen der Herrschergewalt und auch des scharfen und sauberen Urteils. Diese Rutenbündel wurden vorangetragen, um auch symbolisch einen Richter oder Konsul in sein neues Amt einzuführen. Neuanfang auch hier. 

Im ursprünglichen keltischen Baumalphabet, das es wirklich gab – heute haben viele Esoteriker verschiedene Baumalphabete, die nicht stimmen –, ist die Birke der Baum des Anfangs. Es gibt ein irisches Alphabet, und da ist die Birke immer der erste Baum, der erwähnt wird. Die Birke ist der erste Baum im keltischen Kalender und der erste Buchstabe im Beth-Luis-Nion, dem irischen Alphabet. Beth bedeutet »Birke«, Luis ist die Eberesche und Nion die Esche.

 

Die Birke schenkt uns Kraft

Die Birke vermittelt Kraft aus der geistigen Welt. Von Bismarck wird erzählt, dass er, wenn er einen ermüdenden Tag hatte in der Politik, Birken umarmt hat, um wieder neue Kraft zu bekommen. Der japanische Dichter Basho sagte in einem seiner Haikus: »Willst du den Bambus verstehen, gehe zum Bambus.« Und ich würde sagen: »Willst du die Birke verstehen, gehe zur Birke.« Die Birke gibt sehr viel, und sie gibt Wunderbares. Die Birke heilt uns, bringt uns wieder in den Fluss, und man sollte sich die Zeit nehmen, das zu tun.

Wir sind meistens so gehetzt, wir leben in einer Zeit, in der alles in rasender Geschwindigkeit abläuft. Die ganzen vermeintlich zeitsparenden Technologien fressen unsere Zeit in Wirklichkeit weg! Einfach mal anhalten, das Handy ausschalten und sich an den Fuß einer Birke setzen, leer werden, die Birkenrinde schnuppern oder die Blätter schnuppern oder ein Birkenblatt auf die Zunge legen  – und die Gedanken einfach fließen lassen, weggehen lassen wie die Wolken am Himmel. Und dann nimmt man das Wesen der Birke auf. Nicht mit dem Kopf oder den Gedanken nimmt man es auf, sondern unser ganzes Sein nimmt es auf.

 

Unsere Seele wird, wenn sie ruhig ist, ein wenig wie ein Spiegel. Und dann spiegelt sich die Birke in uns und erzeugt in uns nicht nur Gefühle, sondern auch innere Bilder, die zur Birke gehören. Diese inneren Bilder sind Bilder voller Licht, voller Gold, voller Lebensfreude, voller Jugendkraft. Es ist durchaus möglich, dass wir dies auch im gestressten Alltag tun können. Wir müssen uns einfach einmal die Zeit nehmen; es ist unsere Lebenszeit, sie gehört nicht irgendeinem Konzern oder einem Betrieb oder sonst jemandem. Dort können wir zwar helfen und dienen. Doch müssen wir auch wieder zu uns kommen. Die Birke hilft uns, wieder zu uns selbst zu kommen.

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